…anhand eines konkreten Beispiels.
Im konkreten Fall geht es um einen Bullmastiff Rüden, der sich aufgrund eines Beißvorfalles auf Anordnung des zuständigen Amtes für Veterinärangelegenheiten einem Wesenstest zu unterziehen hatte; und im Ergebnis dessen die Halterin ex officio beauflagt wurde, den Hund außerhalb des ausbruchsicheren Grundstückes doppelt angeleint und mit einem geeigneten Beißschutz sowie Kopfhalter zu führen. Im Gutachten wird letzteres übrigens sehr verniedlichend als „Halti“ bezeichnet.
Die Frage, die mir in solchen Fällen immer wieder gestellt wird, ist die nach der Aussagefähigkeit eines Wesenstestes: Kann ein solcher, bei dem mehr als 30 Alltagssituationen durchgespielt werden, eine schlüssige Beurteilung seines Wesens erbringen, auf dessen Basis dann der Daumen bezüglich seines weiteren Schicksals gehoben oder gesenkt wird?
Ich meine: Nur sehr eingeschränkt. Und es sollte das Tier zwingend durch eine therapeutisch geschulte Person auf den Test vorbereitet werden. Womit ich aber nicht die Sinnhaftigkeit in Frage gestellt haben will. Denn wenn ein Hund einem anderen oder sogar einem Menschen Leid angetan hat, muss darauf reagiert werden. Und dann halte ich es für absolut gerechtfertigt, den Besitzer zum Handeln zu zwingen. Die Frage, die mich aber vielmehr umtreibt, ist die nach den Rahmenbedingungen, unter denen der Test durchgeführt wird: Führt ein solcher, so und wie er konkret abläuft, zu ausreichenden Kenntnissen, die eine Beurteilung des Wesens eines Hundes rechtfertigen? Da habe ich arge Zweifel.
Da es keinen echten Wesenstest geben kann, was sicherlich jeder Psychologe oder Neurowissenschaftler bestätigen wird, ist das, was in einem solchen abläuft, nichts anderes als ein Verhaltenstest. Aus dem beobachteten Verhalten des Hundes werden dann Rückschlüsse auf sein Wesen gezogen. Aber da beginnt schon das Dilemma. Zum einen stellt sich nämlich die Frage, ob ein konkretes Verhalten in einer konkreten Situation eine ausreichende Repräsentanz für ein bestimmtes Wesensmerkmal überhaupt haben kann? Und zum anderen, welchen Einfluss die Subjektivität und die Qualifikation des Beobachters auf die gezogenen Schlüsse haben?
Hinsichtlich der Repräsentanz eines konkreten Verhaltens müssten zuvor alle anderen Einflussgrößen, die sich ebenso auf sein Verhalten auswirken, in ihrer Wirkung ausgeschlossen oder zumindest minimiert werden, um das Testergebnis durch ihren Einfluss nicht zu verfälschen.
Das Verhalten eines Hundes wird nämlich von einer Vielzahl von Einflussgrößen bestimmt, die in diesem hier angesprochenen Kontext von Bedeutung sind und in ihrer Repräsentanz für das hündische Verhalten miteinander konkurrieren:
- Sein neurobiologisches Wesen, das sich sowohl als genetisches Resultat einer über viele Jahre und Generationen hinweg erfolgten Züchtung seiner Linie ergibt als auch als ein Resultat der in seinem konkreten Leben auf ihn eingewirkten Umwelteinflüsse wie erlebte Ereignisse usw., die bis in sein Welpenalter zurückreichen; also seine konkrete Historie.
- Seine absolvierte Ausbildung, die unter Umständen sogar sein natürliches Aggressionspotential, welches zu seinem agonistischen Verhaltensrepertoire gehört, ausgenutzt und gefördert hat (Beispiel Schutz- und Diensthund) und
- seine genossene Erziehung, in deren Rahmen die drei Sozialisierungsbereiche (interspezifische, intraspezifische und umweltspezifische) dazu geführt haben können, dass er durch den Hundebesitzer bewusst oder unbewusst Ressourcenverantwortungen übertragen bekommen hat und diesen durch Nutzung seiner Entscheidungsfreiheit gerecht werden will, wozu auch seine Verteidigungsaggressionen zählen.
Es kommen noch weitere beeinflussende Faktoren hinzu wie beispielsweise relevante medizinisch-klinische Faktoren oder pathologische Befunde, die sich in einer aussagekräftigen Anamnese wiederfinden müssten oder auch die konkreten Rahmenbedingungen, unter denen der Test abläuft, die ihrerseits wiederum eine ganze Kette von Kausalitäten haben können. Dies reicht bis hin zu Gerüchen, denen der Hund in diesen konkreten Situationen ausgesetzt ist und bei ihm bestimmte Assoziationen begründen können usw.
Wenn nun im Rahmen eines zeitlich relativ begrenzten Verhaltenstestes ausschließlich der Einfluss seines Wesens auf sein Verhalten selektiert und dies anhand seines konkreten Verhaltens in den durchgespielten Situationen beurteilt werden soll, müssten theoretisch zuvor alle anderen genannten und mit seinem Wesen konkurrierenden Einflüsse „ausgeschaltet“ werden, um deren Einfluss herauszufiltern.
Am Beispiel des hier erwähnten Bullmastiff Rüden hat die im Anschluss an die Begutachtung auferlegte und durch mich durchgeführte Verhaltenstherapie ergeben, dass dem Hund durch die Besitzerin offensichtlich unbewusst eine Ressourcenverantwortung übertragen wurde. Dass dies unbewusst geschehen ist, spielt keine Rolle. Fakt ist jedoch, dass dem Hund dadurch auch ein dementsprechender Entscheidungsspielraum gewährt wurde, den er dann natürlich unter Ausnutzung seines ihm natürlich verfügbaren agonistischen Verhaltensrepertoires auch ausnutzt. Und dazu gehört eben auch seine Aggression. Insofern wäre eine während des Testes detektierte Aggression gegenüber einem ihm zugeführten bellenden Hundes nicht zwingend auf sein im Wesen liegende und somit schwer kontrollierbare Aggressivität zurückzuführen. Vielmehr kann sie vordergründig durch die von ihm verlangte Verteidigung seiner eigenen Sicherheit und die der Hundehalterin begründet sein. Ergo wäre der Schluss, der aus dem Verhaltenstest bezüglich seiner Aggressivität gezogen würde, schlicht und einfach falsch. Denn der Hund ist in diesem Falle nicht aggressiv, weil er ein solches Wesen hat, sondern weil Frauchen dies offensichtlich von ihm verlangt. Er macht also eigentlich einen klasse Job. Vorausgesetzt, seine Beißattacken sind tatsächlich nur in dieser ihm übertragenen Ressourcenverantwortung begründet, genügt es, ihn durch eine dementsprechende Erziehung von seiner Verantwortung zu entbinden und seinen Entscheidungsspielraum einzuschränken. Und schon wäre u. U. eine Ausrüstung, die an von Anthony Hopkins gespielte Hannibal Lektor-Figur erinnert, überflüssig.
Ergo halte ich es für sinnvoll, den Hund durch eine therapeutisch geschulte Person auf diesen Test vorzubereiten, indem sie seinen Ausbildungsstand und die Ergebnisse seiner Erziehung, soweit es möglich ist, eruiert, um deren Einfluss auf sein Verhalten entweder einschätzen und somit bei der Beurteilung seines Verhaltens mit berücksichtigen oder sogar, das wäre vorteilhaft, durch eine Umerziehung ausschließen zu können.
Ebenso kritisch muss die subjektive Bewertung bestimmter Verhaltensweisen durch den Beobachter gesehen werden. Zum Beispiel wenn, wie in diesem konkreten Fall, der Gutachter zu folgender Aussage kommt (ich zitiere): „G… (Name des Hundes) dreht sich freudig zu der Person …“. Die Frage, die sich mir hier stellt, ist: Worin ist die Bewertung „freudig“ begründet und welche Schlüsse werden daraus gezogen? Meine Vermutung kann nur sein, dass dieser Schluss aus seiner wedelnden Rute gezogen wurde, weil dies meistens als Begründung angeführt wird. Aber ist dies wirklich ein Indiz für Freude? Ist es nicht eher ein Hinweis darauf, dass der Hund unsicher ist bezüglich des weiteren Geschehens? Meine einschlägigen Erfahrungen und Kenntnisse besagen, dass in solchen Situationen immer das Gefühl der Unsicherheit bezüglich der vom Hund nicht voraussehbaren Entwicklung einer Situation die Ursache seines Rutenwedelns ist. Dies kann durchaus mit dem Gefühl der Freude korrelieren, aber sie ist nicht der Auslöser des Wedelns. Insofern ist die subjektive Beurteilung bestimmter äußerer Anzeichen immer problematisch hinsichtlich der daraus gezogenen Schlüsse und kann durchaus zu folgenschweren Fehleinschätzungen führen.
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