Ein Missverständnis mit schwerwiegenden Folgen oder der große Wiedersehens-Irrtum
Es war wieder einmal eine alltägliche Begebenheit, in der ich dem völlig verblüfften „Publikum“ ihren Irrtum hätte erklären müssen, wenn man mir die Gelegenheit gegeben hätte:
Es war ein typisches Wiedersehensszenarium in der Empfangshalle eines Flughafengebäudes. Ein älterer Herr, offensichtlich der Papa eines Rückkehrers, wartete ungeduldig mit Lupo, einem kleinen Beagle, vor der Tür mit der Aufschrift „Arrival“. Beide starrten sehnsüchtig auf diese Tür, bis sie endlich den über alles geliebten Sohn “ausspuckte”, um ihn willkommen zu heißen. Dieser, eine auch Lupo sehr vertraute und von ihm sicherlich geliebte Person, wurde nun bei seinem Heraustreten aus der „Arrival-Pforte“ nahezu frenetisch begrüßt. Lupo, der kleine Beagle, kriegte sich kaum wieder ein, sprang ununterbrochen wie außer Rand und Band an dem Rückkehrer hoch, kläffte erbärmlich, fabrizierte sogar völlig unkontrolliert einen kleinen See auf den Fußboden, rannte wie enthemmt um seinen Freund herum und sprang immer und immer wieder an ihm hoch, um ihm seine “Lefzen” zu lecken. Aber was besonders auffiel: Seine Rute rotierte wie ein Quirl auf Hochtouren.
Das herumstehende „Publikum“ wurde von dieser Wiedersehensszene derart in den Bann gezogen, dass sie beinahe vergaßen, ihre eigenen Rückkehrer zu begrüßen. Aus jeder Ecke hörte man: „Guck doch mal, wie dieser Hund sich freut!“ Manch einem standen vor Rührung die Tränen in den Augen. Hätte man das „Publikum“ gefragt, woran sie denn meinen, die Freude des Hundes erkannt zu haben, hätten sicherlich viele von ihnen geantwortet: „Na woran schon? Gucken Sie doch mal, wie wild der mit seinem Schwanz wedelt!“
Aber war das wirklich Freude?
Für alle beobachtenden Laien dieser Szene stand also fest: Das ist Ausdruck ungebändigter Freude und Beweis reinsten Glückes seitens des kleinen Lupo. Aber war es das wirklich? War es nicht eher so, dass Lupo zwar den Rückkehrer mit Freude begrüßte, aber diese doch gepaart war mit einem noch viel stärker wirkenden Gefühl der extremen Unsicherheit und einer Liste offener Fragen? Unsicher, ob alles noch so geblieben ist wie es war, als der Freund fortging. Hegt er noch die gleichen freundschaftlichen Absichten? Gelten noch die gleichen Regeln wie zuvor? Wird der Rückkehrer auch weiterhin für meine Sicherheit sorgen und vor Feinden und Rivalen beschützen, so wie er es damals tat? Darf ich auch weiterhin uneingeschränktes Vertrauen zu ihm haben? Ist mein Entscheidungsspielraum und damit mein Verantwortungsbereich weiterhin so eingeschränkt wie bisher?
Warum hörte Lupo dann aber augenblicklich mit dem Schwanzwedeln auf? Löste sich seine Freude etwa in nichts auf?
Wenn es reines Glücksgefühl gewesen wäre, warum hörte Lupo dann aber abrupt mit dem vermeintlich freudigen Schwanzwedeln auf, nachdem der Heimkehrer ihm mit einer routinierten Geste klar gemacht hatte, dass alles in Ordnung sei? Wie von Geisterhand gestoppt hörte Lupo nämlich auf mit seinem wilden Begrüßungsritual und legte sich platt wie eine Briefmarke auf den Boden, ohne dass sein Schwänzchen auch nur ein winziges Zucken offenbarte. War da etwa sein Glücksgefühl wie ausgelöscht? Wohl kaum. Der Heimkehrer hatte ihm nur deutlich zu verstehen gegeben, dass es keinen Grund mehr gebe für jegliche Unsicherheiten.
„Woran erkenne ich, wann mein Hund sich sicher fühlt?“
Diese Frage wird mir häufig gestellt. Denn ich beschreibe das Ziel eines Hundetrainings als dann erreicht, wenn der Hund im alltäglichen Leben möglichst oft einen Zustand des befriedigten Sicherheitsbedürfnisses hat. Ich reagiere dann gerne mit einer provozierenden Antwort:
„Sorgen Sie dafür, dass ihr Hund möglichst selten mit dem Schwanz wedeln muss!“
Das sorgt in der Regel bei meinen Zuhörern nicht nur für Erstaunen, sondern sogar für Irritationen, denn vor ihrem geistigen Auge läuft sofort ein Film ab, wie ihr Liebling sie abends vermeintlich freudig erregt – und eben Schwanz wedelnd – bei ihrem Heimkommen begrüßt. Warum sollte man also dem Hund einen so glücklichen Moment vorenthalten?
Weil es ein untrügliches Zeichen von Unsicherheit ist!
Ein wichtiges Indiz für den Gemütszustand eines Hundes ist der optische Eindruck, den seine Rute hinterlässt. An ihr können nicht nur seine Artgenossen allerhand Informationen ablesen, denn er ist ein wichtiges kommunikatives Organ. Sondern auch wir Menschen könnten, wenn wir wollten, mittels seiner Aktivität oder Inaktivität wichtige Information generieren: Wenn Hunde ihren Schwanz ruhig nach unten halten, sind sie nämlich völlig entspannt. Voraussetzung für eine völlige Entspannung ist aber die totale Abwesenheit jeglicher Unsicherheit. Denn die Sicherheit ist – wie bereits mehrfach angesprochen – das fundamentale Grundbedürfnis, welches der Hund in allen Lebenssituationen sichergestellt wissen will.
Mit dem Schwanz zu wedeln ist kein Ausdruck von Freude!
Wenn er allerdings mit der Rute wedelt, muss es dafür äußere Gründe geben, die in seinem Inneren einen Zustand von Unsicherheit generiert ob dessen, was da draußen passiert. Solche Unsicherheiten müssen nicht zwangsläufig negativ belegt sein. Sie können sogar mit Freude korrelieren. Beispielsweise wenn Herrchen das Lieblingsspielzeug in die Hand nimmt oder einen Stock. Reflexartig wird Lupo mit der Rute wedeln. Aber dann ist nicht die Freude der Auslöser des Schwanzwedelns, sondern die Einschätzung einer Situation, dessen Ausgang er nicht wirklich bewerten kann. Denn er weiß nicht einzuschätzen, was Herrchen mit dem Ding wohl vor hat.
Wissenschaftliche Erkenntnisse über das Schwanz-Wedeln:
Wissenschaftliche Untersuchungen haben sogar ergeben, dass die Richtung, in der mit der Rute gewedelt wird, Rückschlüsse auf den Seelenzustand zulassen. Das Gehirn verarbeitet in der linken Hemisphäre nämlich andere Gemütszustände als auf der rechten. Im Fachmagazin Current Biology schreiben die Wissenschaftler, dass ein eher nach rechts gerichtetes Wedeln bei aktiver linker Hirnhälfte ausgelöst werde und positive Emotionen anzeige – etwa beim Anblick des Besitzers. Sei aber die rechte Hirnhälfte aktiv, folge ein eher nach links gerichtetes Wedeln, erläutern die Forscher. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn der Hund mit einem unfreundlichen Artgenossen konfrontiert sei. Beide Situationen werden aber grundsätzlich begleitet durch das Gefühl der Unsicherheit bezüglich des Ausgangs der jeweiligen Situation. Und deshalb das Wedeln.
Mit der Rute wedeln signalisiert immer Unsicherheit!
Summa summarum bleibt festzustellen, dass der Hund immer dann mit der Rute wedelt, wenn er unsicher ist und mental erregt. Wenn der Grund für diese Unsicherheit in einer möglichen Gefahr oder Bedrohung seiner Sicherheit besteht und dieser Zustand sogar eine Form der Dauerbelastung annimmt, kommt er dem Stress sehr nahe. Also sollte das Ziel des Rudelführers Mensch darin bestehen, so oft es irgend geht, Situationen zu vermeiden, in denen der Hund aus diesen Gründen mit seiner Rute wedelt. “Wackelt er mit dem Schwanz”, weil er nicht einzuschätzen vermag, ob Herrchen nun das aufgehobene Stöckchen wirft oder nicht, dann lasst ihn wackeln so oft er will, denn das hat nur etwas mit “spaßiger” Unsicherheit zu tun.
Unsicherheit erzeugende Situationen gibt es derer aber viele:
Typische Situationen, in denen er unsicher ist, was wohl als nächstes passiert, gibt es derer bekanntlich viele:
Wenn er Herrchen hört, wie er die Leine vom Haken nimmt oder mit dem Schlüsselbund klappert, freut der Hund sich vermeintlich auf einen Spaziergang. Aber hat sich Herrchen schon einmal darüber Gedanken gemacht, ob sein Schützling sich mental auch dieser Herausforderung gewachsen fühlt? Ist er sich sicher, ob er weiß, was für ein Abenteuer da draußen auf ihn wartet? Lauern dort vielleicht Gefahren in Gestalt irgendwelcher Konkurrenten oder Revierrivalen? Die Assoziationen, die ein bevorstehender Spaziergang bei manch einem Artgenossen von Lupo auslöst, begründet in seinen letzten gruseligen Erfahrungen auf der Hundespielwiese, können durchaus puren Stress bedeuten.
Kann sich der Mensch in etwa vorstellen, wenn er seinen Hund im fremden Gelände vorweg laufen lässt, was dies für ihn für eine enorme mentale Belastung ist, in einem von fremden Artgenossen markierten und verminten Gelände Aufklärungsarbeit leisten zu müssen? Unter Umständen ist sein Stressniveau, begründet in riesiger Angst, so groß, dass er sogar seine eigenen Hinterlassenschaften sofort wieder auffrisst, um ja keine Spuren zu hinterlassen und die Konkurrenten ja nicht zu provozieren. Achtet in solchen Momenten doch einmal auf seine Rute. Mit Freude hat das nichts zu tun.
Oder weiß Herrchen, was im Kopf seines Hundes vorgeht, wenn er mit dem Schlüsselbund klappert und ohne ihn das Haus verlässt? Ist er sich dessen bewusst, dass für den Hund ein wichtiges Rudelmitglied das Rudel verlässt und er unter Umständen überhaupt nicht einzuschätzen vermag, welche Folgen dies für ihn und seine Sicherheit hat?
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