oder was hat das mit Friedrich Schiller zu tun?

Kürzlich traute ich meinen Ohren nicht, als mich eine Kundin aus Boston im US-Bundesstaat Massachusetts kontaktierte mit der Bitte, ihren Viszla-Rüden von seinem ihm attestierten Aggressionsverhalten zu befreien.

Dass mich Hundebesitzer aus ganz Deutschland, Österreich oder der Schweiz und hin und wieder auch schon mal aus den skandinavischen Ländern aufsuchen und um Hilfe bitten, bin ich gewohnt. Doch dass man sogar über den großen Teich von einem Kontinent zum anderen fliegt mit der Intension, seinen Hund erziehen zu lassen, das war selbst für mich neu. Aber der Leidensdruck, der sich aus dem sehnlichsten Wunsch ergibt, das unerträgliche Verhalten des Vierbeiners beseitigt zu wissen, weil ein vernünftiges Zusammenleben mit ihm quasi unmöglich geworden ist, und die eingeforderte Abhilfe selbst seitens vermeintlicher Fachleute aber ausbleibt, treibt halt so manche Blüten.

Die Hundebesitzerin, die diese Strapazen der Reise auf sich nahm, war zuvor bereits bei einem recht renommierten Tierverhaltens- und Forschungszentrum in ihrer Heimat Massachusetts vorstellig geworden, um die unerträglich gewordenen Aggressionen ihres Hundes ihr gegenüber aus der Welt schaffen zu lassen. Allerdings blieb ihr diese Hilfe versagt. Nicht etwa, weil man ihr nicht helfen wollte. Im Gegenteil, der Aufwand, den man dort betrieben hat und die Mühe, die man sich gab, um allein das aggressive Verhalten des Delinquenten zu dokumentieren, ließen kaum zu wünschen übrig. Aber nicht nur der Versuch der Analyse, sondern auch die möglichen Abhilfemaßnahmen in Form eines ausführlich formulierten „Verhaltensplans“ (Trainingsplans) umfassten nicht weniger als sechs DIN-A4 Seiten plus noch einmal ein ähnlich umfangreiches Dokument über allgemeine Erkenntnisse der Verhaltensforschung zu den Kausalitäten des hündischen Verhaltens. Kurzum, am guten Willen und Bemühen schien es nicht gefehlt zu haben.

Ebenso könnte man annehmen, dass es auch nicht an einer mangelnden Qualifikation des Fachpersonals gescheitert sei, denn die Direktorin der Einrichtung, die sich auch als Autorin der Dokumentationen zu erkennen gibt, verfügt immerhin über den akademischen Titel Ph.D., BCBA-D, CAAB. Auf ein kurzes Deutsch gebracht: Doktor der Verhaltensanalyse und zertifizierte Tierverhaltensforscherin. Ph.D. ist die Abkürzung für den lateinischen Ausdruck „Philosophiae Doctor“. Damit bezeichnet der Titel wörtlich übersetzt zwar den Doktor der Philosophie; faktisch handelt es sich beim Ph.D. jedoch um einen der höchsten allgemeinen akademischen Grade in verschiedensten Fachrichtungen, den US-amerikanische Universitäten vergeben. Die Erklärung für die Benennung liegt in der Geschichte begründet: Die Philosophie ist halt die Mutter aller Wissenschaften.

Mit anderen Worten: Man sollte eigentlich unterstellen dürfen, dass sowohl die Verhaltensanalyse als auch der darauf basierende Trainingsplan zur Beseitigung des unerwünschten Verhaltens einer geballten Ladung Fachwissen entsprungen sei.

Sollte man jedenfalls meinen. Jedoch nicht nur das Ausbleiben des Trainingserfolges, sondern insbesondere die Lektüre des umfangreichen Materials, das auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse des Verhaltens des Hundes erarbeitet und der Hundebesitzerin als Handlungsanleitung mit auf den Weg gegeben wurde – und das sie mir zur Expertise überlassen hat -, stützen eine solche Unterstellung leider nicht.

Um es mal spaßig auszudrücken: Bei der Lektüre dieser, zugegeben sehr ausführlichen, Abhandlungen musste ich unweigerlich an Friedrich Schillers zweiten Teil seiner Trilogie „Wallenstein“ denken. Als der Kriegsrat von Questenberg den Chef eines Dragonerregiments während dessen langer Lobrede auf Wallenstein mit der Frage unterbricht: „Was ist der langen Rede kurzer Sinn?“

Aber Spaß beiseite, mich störte auch gar nicht so sehr der Umfang der beiden Dokumente, denn die Komplexität des Verhaltens eines Lebewesens und dessen Kausalitäten vertragen in manchen Situationen durchaus eine ausführliche Erläuterung und sind nicht immer mit nur wenigen Worten erklärbar. Sondern ich nahm eher Anstoß zum einen an den teils fachlich falschen Aussagen und den sich widersprechenden Schlussfolgerungen, woran auch deren Ausführlichkeit nichts ändert. Letzteres hinterlässt eher den Eindruck des vordergründigen Suggerierens wissenschaftlicher Fundiertheit. Aber Quantität und Qualität müssen nicht zwingend korrelieren.

Und zum anderen richtet sich meine Kritik gegen die Tatsache, dass aus der Dokumentation nicht einmal ansatzweise der Versuch zu entnehmen ist, den Grund, warum der Hund sich so verhält wie er sich verhält, zu eruieren. Was nach meinem Selbstverständnis jedoch die Grundvoraussetzung dafür ist, dass überhaupt nach einer geeigneten Lösung gesucht werden kann. Dieser Grundsatz, vergleichbar mit einem Axiom in der wissenschaftlichen Arbeit – in diesem Fall der Verhaltensforschung – besagt, dass eine nachhaltige Einflussnahme auf ein Verhalten mit Hilfe und im Rahmen der Erziehung effektiv nur durch die Einflussnahme auf den Verhaltensgrund erfolgen kann. Wenn aber der Grund des Verhaltens noch nicht einmal hinterfragt wird, wie soll dann auf ihn eingewirkt werden können.

An dieser Stelle muss ich aber wohl noch einmal auf den Unterschied aufmerksam machen zwischen der Einflussnahme auf das Verhalten durch eine Erziehung – wie ich sie hier meine – oder durch eine Konditionierung. Letzteres erfolgt in der Regel durch das Nutzen eines extrinsischen (äußeren) Motivators (Belohnung oder Bestrafung) und wird vorwiegend und auch erfolgreich im Rahmen der Ausbildung angewendet. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass durch eine Konditionierung nicht auf den Verhaltensgrund eingewirkt werden kann geschweige denn, die Möglichkeit seiner Beseitigung besteht, und somit das veränderte Verhalten ausschließlich auf die Wirkung des extrinsischen Motivators zurückzuführen ist. Dadurch kommt es zur Gefahr des Zurückfallens in alte Verhaltensmuster, wenn die Wirkung des Motivators ausbleiben sollte. Typische Methoden dafür sind das Reichen von Leckerli oder das Anwenden eines Klickers oder auch die oftmals erwähnte positive Bestärkung.

Das alles hat jedoch nichts mit der Erziehung des Hundes zu tun, was in unserem Fall, da es um die Einflussnahme auf das soziale Verhalten des Tieres geht, die einzige und favorisierte Möglichkeit ist. Denn nur bei dieser wird ein verändertes Verhalten durch die Beseitigung oder Veränderung des Verhaltensauslösers, also des Grundes, erreicht. Dazu ist allerdings ein intrinsischer (innerer) Motivator notwendig. Beim Menschen spricht man von der Schaffung der Einsicht in die Notwendigkeit, so dass der Educandus (der zu Erziehende) sich anschließend aus innerer Überzeugung anders verhält als zuvor. Beim Hund erreicht man dies über den Umweg über die Einflussnahme auf seine Bedürfnisse, so dass er sich anschließend auch aus ureigenem Interesse so verhält, wie er sich verhalten soll.

Mit anderen Worten: Will man nachhaltig ein unerwünschtes Verhalten eines Hundes beseitigen, so muss der Grund seines bisherigen Verhaltens, der immer – mit Ausnahme pathologisch begründeter Verhaltensweisen – in der Befriedigung eines seiner Grundbedürfnisse zu finden ist, beseitigt oder verändert werden. Und da seine Grundbedürfnisse, die sein Verhalten beeinflussen, auf die drei Bedürfnisse Stoffwechsel, Fortpflanzung und Sicherheit reduziert werden können und die ersten beiden entweder als grundsätzlich befriedigt gelten können, wenn der Hund in der Gemeinschaft mit einem Menschen lebt, oder als nur temporär während der Läufigkeit seine Wirkung entfaltet, bleibt ausschließlich das Bedürfnis nach Sicherheit, das als Auslöser seines – in unserem Fall aggressiven – Verhaltens fungiert.

Im konkreten hier vorliegenden Fall wurden seitens der Verhaltensforschungseinrichtung sechs konkrete Situationen ermittelt, in denen der Hund aggressives Verhalten einschließlich Beißattacken gegenüber der Halterin zeigt:

  1. Streicheln;
  2. Abtrocknen mit einem Handtuch;
  3. Halsband an- oder ausziehen;
  4. Anziehen des Geschirrs,
  5. Berühren und Reinigen der Pfoten sowie
  6. Zubereitung seines Futters.

Als Abhilfemaßnahmen werden in dem erwähnten Verhaltensplan u.a. vorgeschlagen:

  1. Das Streicheln mit Hilfe auf der Hand verteiltem Futter zu üben;
  2. Das Üben des Anlegens des Halsbandes und des Geschirrs mit Hilfe eines Klickers;
  3. Zum Reinigen der Pfoten solle der Hund dazu gebracht werden, dies selbst zu tun und
  4. Das Futter solle nicht mehr in Gegenwart des Hundes zubereitet werden.

Man könnte meinen, dieser auf Wochen und Monate angelegte Trainingsplan sei nicht wirklich ernst gemeint. Aber dem ist nicht so, denn die Verfasser lassen keinen Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit zu. Abgesehen davon, dass nicht eine einzige dieser Verhaltensempfehlungen auf die Beseitigung des Verhaltensgrundes abzielt und somit auch keine einzige die Anforderungen an eine Erziehungsmethode erfüllt, sind alle genannten Empfehlungen typische Konditionierungsmethoden und somit zur Erziehung des Hundes völlig ungeeignet. Alle formulierten Empfehlungen sind entweder nur der Versuch des Vermeidens von Situationen, die die Aggressionen auslösen, oder das Beeinflussen der Symptome. Vergleichbar mit der Empfehlung eines Zahnarztes, bei Zahnschmerzen eine Schmerztablette zu nehmen oder zu versuchen, sich daran zu gewöhnen, statt die Ursache des Schmerzes zu beseitigen.

Aber besonders absurd wird das Ganze an der Stelle, an der die Experten der Halterin empfehlen, sich in Zukunft sofort vom Hund wegzubewegen, sowie er beginnen sollte zu knurren oder sich zu versteifen, mit dem Zweck, den seine Aggression auslösenden Reiz, der offensichtlich ihre zu große Nähe sei, zu beseitigen. Und das, obwohl man nur wenige Absätze zuvor richtigerweise zu der Erkenntnis gelangt war, dass ein Hund sein aggressives Verhalten deshalb immer wieder anwendet, weil er in der Vergangenheit mit diesem Verhalten immer wieder Erfolg hatte. Dass die Lösung deshalb vielleicht darin bestehen könnte, diese Handlungslogik zu durchbrechen und ihm diesen Erfolg eben nicht mehr zu verschaffen, sondern stattdessen zu verwehren, indem Frauchen eben nicht mehr wie in der Vergangenheit zurückweicht, sondern ihm selbstbewusst entgegentritt und ihn entschieden in die Schranken weist; auf die Idee kommen die Experten bedauerlicherweise nicht. Warum auch immer.

Dabei ist die Lösung des Problems eigentlich recht simpel:

Der Grund für das aggressive Verhalten – und das sollte eine solche Institution der Tierverhaltensforschung aber eigentlich zu ihrem Wissensfundus zählen – ist in allen beschriebenen Situationen in der mangelnden Akzeptanz des Führungsanspruchs der Halterin durch den Hund zu finden.

Ein bekannter Tierverhaltensforscher hat es einmal trefflich auf den Punkt gebracht, indem er feststellte, dass ein Hund eine starke Führungspersönlichkeit benötigt, an der er sich zuverlässig orientieren kann, um nicht in Konflikte zu geraten.

Im Konkreten heißt das, dass ein Hund immer dann in einen Konflikt gerät – und diesen u.U. durch aggressives Verhalten zu erkennen gibt – wenn der Mensch zwar für sich die Führungsrolle in Anspruch nimmt, aber aus Sicht des Hundes die damit einhergehenden Anforderungen nicht erfüllt. Zu diesen Anforderungen zählen insbesondere das selbstsichere Auftreten und Treffen klarer Entscheidungen in „kritischen“ Situationen. Solche Situationen sind zum Beispiel diejenigen, in denen dem Hund eindeutig gezeigt werden muss, wer für die Sicherheit beider verantwortlich ist. Es wäre für die meisten Hunderassen aber überhaupt kein Problem, wenn Frauchen diese Verantwortung dem Hund bewusst und willentlich überträgt, wenn sie sich selbst dazu nicht in der Lage wähnt (Beispiel Wach- und Schutzhund), so ihm dafür auch der notwendige Entscheidungsspielraum mit überlassen wird. In Konflikte gerät der Hund in solchen Fällen dann nur, wenn beides nicht miteinander korreliert, also ihm beispielsweise die Verantwortung übertragen aber gleichzeitig der dazu notwendige Entscheidungsspielraum versagt wird, indem er für sein Beschützerverhalten Sanktionen statt Anerkennung erfährt. In gleicher Weise konfliktreich wirken aber auch solche Situationen, in denen Frauchen oder Herrchen ihrem Schützling unbewusst bzw. unwillentlich durch bestimmte Gesten in „kritischen“ Situationen zu verstehen gegeben haben, nicht willens oder nicht in der Lage zu sein, für beider Sicherheit zu sorgen; den Hund aber gleichzeitig zu sanktionieren oder über die ungeschickte Interaktion über die Leine daran zu hindern, seiner Verantwortung nachzukommen.

Letztgenannte Situation trifft nämlich auf den konkreten und hier beschriebenen Fall zu. Die Halterin nimmt zwar für sich die Führungsrolle in Anspruch, hat aber gleichzeitig offensichtlich, und ohne dass es ihr bewusst war, dem Hund durch ihr unsicheres und teilweise vielleicht sogar ängstliches Verhalten zu verstehen gegeben, nicht willens und aus seiner Perspektive auch nicht in der Lage zu sein, ihrer Verantwortung nachzukommen. Mit anderen Worten, der Hund traute es seiner Halterin einfach nicht zu, für ihre beider Sicherheit sorgen zu können und wehrte sich durch sein aggressives Verhalten gegen ihren Führungsanspruch.

Somit liegt die Lösung des Problems auf der Hand: Die Erziehung – und damit die Beseitigung des Verhaltensgrundes – besteht in seiner Entbindung von der Verantwortung, für die Sicherheit beider sorgen zu müssen, und simultan ihm unmissverständlich und eindeutig zu demonstrieren, dass ab sofort die Halterin von nun an statt seiner willens und auch in der Lage ist, diese Verantwortung zu tragen. Flankiert werden muss dies natürlich durch eine energische Unterbindung seines unerwünschten Verhaltens. Das bedingt natürlich zwingend zum einen ein selbstbewusstes, selbstsicheres und vor allem konsequentes Auftreten der Halterin dem Hund gegenüber aber zum anderen auch das demonstrative Ausleben der Beschützerrolle durch die Halterin. Das Verkehrteste, was sie deshalb tun kann, wäre das Befolgen der ihr empfohlenen Verhaltensweisen wie beispielsweise das sofortige Zurückweichen in Situationen, wenn der Hund ihr gegenüber Aggressionen zeigt. Genau das Gegenteil wäre die fachlich korrekte Empfehlung gewesen.

Und noch eines zum Schluss: Überlassen Sie die Leckerli, Klicker und den sonstigen Firlefanz an extrinsisch wirkenden Belohnungen den Dompteuren, die ihren Vierbeinern das Zick-zack-Laufen durch die Beine oder den doppelten Salto-Rückwärts zur Belustigung des weisen Homo-sapiens beibringen wollen. Denn Erziehung mit dem Ziel der Veränderung des sozialen Verhaltens hat mit all den Konditionierungsmaßnahmen nichts zu tun. Lassen Sie sich das Gegenteil auch nicht von den Lobbyisten der Klicker- und Leckerliindustrie einreden.