oder

Ist die Erziehung eines Hundes personengebunden und somit auch nicht übertragbar?

Um die Antwort auf die Frage vorwegzunehmen: Ja, vorausgesetzt natürlich, über die Definition der Erziehung besteht Konsens.

Wenn wir unter Erziehung des Hundes die Einschränkung seines Entscheidungsspielraums bei gleichzeitiger Entbindung von der Verantwortung für seine eigene und die Sicherheit seiner Bezugsperson“ verstehen, muss man davon ausgehen, dass er sowohl die Einschränkung als auch die Abgabe seiner Verantwortung nur dann und gegenüber derjenigen Person akzeptiert, wenn diese Person ihm unmissverständlich zu verstehen gibt, nicht nur willens, sondern vor allem auch in der Lage zu sein, zuverlässig und stets für ihre gemeinsame Sicherheit sorgen zu können. Was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass ein Hund, dem eine Bezugsperson keine zuverlässige und unmissverständliche Führung bietet, zu der insbesondere die demonstrative Übernahme der Beschützerrolle zählt, er dieser Person seine eigene Sicherheit nicht anvertrauen wird und somit laut Definition auch nicht als „erzogen“ gelten kann. Ein solcher Hund wird dann selbst für seine eigene und die Sicherheit seiner Bezugsperson sorgen, was sich in seinem agonistischen Verhalten manifestiert.  

Ein Kunde, dessen Hund wir vor einiger Zeit erfolgreich erzogen hatten, bat mich, bei Gelegenheit doch bitte noch einmal vorbeizuschauen, weil ihm jüngst eine vermeintliche Besonderheit im Verhalten seines Hundes aufgefallen sei, die er bisher so noch nicht bemerkt habe. So zeige der Hund zwar in allen üblichen und typischen Lebenssituationen keinerlei Aggressionen mehr, verhalte sich auch gegenüber anderen Hunden seit unserem Training desinteressiert und entspannt, woran er auch festmache, dass der Hund es akzeptiert habe, die Verantwortung für seine Sicherheit abzugeben. Jedoch mit einer Ausnahme im Verhalten gegenüber fremden Personen unter ganz bestimmten Umständen.

Im Konkreten beschrieb er diese bestimmten Umstände, in der ihm dieses Verhalten aufgefallen sei, sinngemäß wie folgt: Wenn Personen, die der Familie und dem Hund vertraut seien, sie besuchen, und diese Personen sich dann auch problemlos mit dem Hund befassen können und würden (Stichwort Streicheln und Kraulen), zeige der Hund jedoch in dem Moment wieder agonistisches Verhalten wie bspw. Knurren oder Verbellen, sowie weitere aber dem Hund fremde bzw. unbekannte Personen dazustoßen. Und auch nur diesen unbekannten Personen gegenüber. Solch ein Verhalten zeige der Hund ausschließlich unter diesen konkreten Bedingungen. Selbst wenn er, der Halter, sich mit dem Hund in sehr belebter urbaner Umgebung bewege, in der er einer Vielzahl fremder Menschen begegne, sei von diesen Aggressionen nichts zu bemerken.

Da ich ahnte, worin die Ursache dieses vermeintlich besonderen Verhaltens bestand, aber sicher gehen wollte, die Situation auch korrekt einzuschätzen, ließ ich mir zunächst noch einen Fakt bestätigen. Ich kam mir, zugegeben, in dem Moment ein wenig vor wie Agatha Christie’s Poirot, dem der Schuldige zwar im Grunde genommen schon längst bekannt ist, aber, um absolut sicher zu gehen und keinem Irrtum zu erliegen und sich dann eventuell zu blamieren, den letzten sogenannten Schlussstein, der den Beweisbogen schlussendlich einsturzsicher macht, bestätigen zu lassen. Deshalb ließ ich mir die Frage beantworten, so er sich noch an konkrete Einzelheiten erinnere, ob er selbst, also der Hundehalter, sich in diesem Moment, als der Hund dieses agonistische Verhalten wieder zeigte, in dessen unmittelbarer Nähe aufgehalten habe oder der Hund zumindest davon ausgehen konnte? Mit unmittelbarer Nähe meine ich zumindest einen Sichtkontakt.

Ich habe nämlich in einem meiner Bücher einen ähnlich gelagerten Fall bereits beschrieben und auch den Grund dafür erläutert, an den ich mich noch aus meiner Kinderzeit erinnerte. Wir fuhren jedes Jahr, manchmal sogar mehrmals, nach Österreich in den Winterurlaub in das gleiche Quartiert. Die Gastgeberfamilie hatte einen Border Colli namens Billy, einen typischen Hund mit Hüte- und Beschützerinstinkten wie es im Buche steht, oder besser gesagt in seinem Dispositionsgefüge, der uns mittlerweile sehr gut kannte und als Vertrauenspersonen offensichtlich auch akzeptierte. Mein Vater hatte die Angewohnheit, sich abends nach dem Skifahren nochmal auf eine Joggingrunde zu begeben und nahm bei einer dieser Laufrunden besagten Billy mit. Als aber beide Protagonisten zurückkehrten, berichtete mein Vater zum ungläubigen Erstaunen des Gastgebers, der Hund habe sich unterwegs mit jedem und allem angelegt, wer und was ihnen über den Weg lief. Ein Verhalten, dass die Gastgeber jedoch von ihrem Hund mitnichten kannten. Im Gegenteil, bei ihren Runden ignoriere Billy quasi jeden und alles und interessiere sich in der Wurzel nicht für andere Personen oder gar Hunde.

Die Erklärung war relativ simpel: Die Gastgeber waren für Billy diejenigen Bezugspersonen, von denen er wusste, dass sie ihm zuverlässig und unter allen Umständen Schutz gewähren und für die gemeinsame Sicherheit sorgen würden. Also hatte er in deren unmittelbarer Gegenwart auch keinen Grund, selbst für diese Sicherheit sorgen zu müssen, weder für seine eigene noch für die seiner Bezugspersonen. Somit galt es für ihn auch nicht, die Umgebung nach Gefahren abzusuchen, um diese eventuell zu beseitigen. Er musste keine Absichten anderer Hunde abklären, um auszuschließen, dass von ihnen irgendeine Gefährdung ausgehen könnte. All dies konnte er seinen Bezugspersonen überlassen. Mein Vater jedoch, der für den Hund eine vertraute Person war und quasi mit zur Familie gehörte, ihm gegenüber aber diese Beschützerrolle noch nicht unter Beweis gestellt hatte bzw. es noch gar nicht konnte, galt für den Hund somit als eine Person, die ihnen beiden wahrscheinlich keinen zuverlässigen Schutz bietet. Befördert wahrscheinlich durch unbedachte Gesten oder ungeschicktes Verhalten meines Vaters ihm gegenüber insbesondere in Schlüsselsituationen, in denen es darauf angekommen wäre, dem Hund unmissverständlich zu demonstrieren, ähnlich wie seine eigentlichen Bezugspersonen, für die gemeinsame Sicherheit sorgen zu können. Also galt es für den Hund, diese Beschützerrolle in dieser konkreten Situation wieder selbst zu übernehmen. Und dies tut ein Hund instinktiv, auch ohne, dass ihm dazu ausdrücklich eine Weisung gegeben wird. 

Will heißen, der Hund weiß sehr genau, wer ihm seinen Entscheidungsspielraum eingeschränkt und für die gemeinsame Sicherheit die Verantwortung abgenommen hat. Dies gilt aber nur für genau diesen Personenkreis.

Und damit sind wir bei der Erklärung für das vermeintlich besondere Verhalten des oben erwähnten Hundes. Diesem Hund wurde durch den Halter ja während unseres gemeinsamen Trainings – und offensichtlich im Rahmen seiner anschließenden Compliance auch weiterhin – unmissverständlich demonstriert, zuverlässig für beider Sicherheit sorgen zu können. Einen Schutz, der dem Hund aber auch nur und ausschließlich durch ihn, dem Halter, demonstriert wurde und weiterhin wird. Aber alle anderen Personen, insbesondere die Besucher, die zwar als vertraute Personen mit zur Familie gehören oder sich in einer vergleichbaren Position befinden, haben diese Beschützerroller ja nicht oder noch nicht unter Beweis gestellt und gelten deshalb für den Hund als ihm anvertraute und beschützenswerte Personen. Und wenn nun eine solche wie oben erwähnte Situation eintritt, bei der die Bezugsperson, der er allein die Fähigkeit zutraut, für Sicherheit zu sorgen, anscheinend nicht anwesend ist, aber Personen, die es potentiell zu beschützen gilt, übernimmt der Hund instinktiv deren Schutz, da er noch nicht weiß, ob von den neu hinzugekommenen Personen, die ihm nicht vertraut sind, irgendeine Gefahr ausgehen könnte.

Mir selbst ergeht es ähnlich. Auch mein Hund, der in meiner Gegenwart „keine Pfote rühren würde“, um potentielle Gefahren zu erkennen oder gegebenenfalls abzuwehren, solange ich ihm nicht ausdrücklich eine Weisung diesbezüglich erteile, wird plötzlich zum Beschützer der Familie, sowie er vermutet, ich sei nicht anwesend.

Damit lassen sich übrigens auch andere vermeintliche Besonderheiten im Verhalten eines Hundes erklären. Beispielsweise auch solche wie die des Hundes einer Dame aus den USA, deren Fall ich im Artikel 101. Wenn nicht einmal die Verhaltens-Forschung einen Plan hat beschrieben habe. Ihr Hund zeigte nämlich selbst ihr gegenüber, also gegenüber seiner Bezugsperson, aggressives Verhalten. Der Grund lag darin, dass sie einerseits ihre Führungsrolle zwar beanspruchte – beispielsweise, indem sie versuchte, das Verhalten des Hundes zu korrigieren, also seinen Entscheidungsspielraum einzugrenzen – andererseits der Hund ihr die Fähigkeit, für beider Sicherheit zu sorgen, aber nicht zutraute. Da beides aber miteinander korrelieren muss – will heißen eine Einschränkung des Entscheidungsspielraumes ist nur dann zweckmäßig, wenn dem Hund simultan auch die Verantwortung abgenommen wird – kommt der Hund in einen für ihn unlösbaren Konflikt, wenn ihm einerseits der Schutz vorenthalten wird, aber andererseits ihm selbst die Möglichkeiten zu dessen Gewährleistung verwehrt werden.

Aus all dem Gesagten ergibt sich aber noch eine weitere sogar sehr wichtige Erkenntnis bzw. Schlussfolgerung.

Auch wenn das Gegenteil immer wieder behauptet oder sogar von Hundeschulen offensichtlich angeboten und praktiziert wird,  

es ist nicht möglich, einen Hund stellvertretend für den Hundehalter zu erziehen!

Zu mir kommen immer wieder Kunden, denen Hundeschulen angeboten haben bzw. die Kunden dies dann sogar taten, ihren Hund in der Hundeschule abzugeben, um ihn dort erziehen zu lassen. In einigen Fällen sogar nicht nur für mehrere Tage, sondern sogar Wochen. Und das zu Preisen in fünfstelliger Höhe.

Dass ein solches inkompetentes und regelrecht verantwortungsloses Agieren mancher Hundeschulen und Hundetrainer – anders kann und darf ich es nicht bezeichnen – zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, ist nicht nur daran festzumachen, dass solche Kunden anschließend enttäuscht und frustriert zu mir Kontakt aufnehmen, weil der Erfolg ausgeblieben ist, sondern in erster Linie anhand der Theorie der Erziehung. Wenn wir von der eingangs erwähnten Definition der Erziehung ausgehen, muss es doch schon vom Ansatz her selbst jedem Laien, geschweige denn jedem ausgebildeten Hundetrainer, wie Schuppen von den Augen fallen, dass die Erziehung eines Hundes nur ein an die Person des Hundehalters gebundenes Prozedere sein kann. Denn die Einschränkung des Entscheidungsspielraumes und die simultane Entbindung des Hundes von seiner Verantwortung für die Sicherheit und Übernahme derselben durch die Bezugsperson muss doch durch diejenige Person erfolgen, der er sich später und im gewöhnlichen Leben unterzuordnen hat, sprich durch den Halter. Was nützt es also oder welchen Sinn sollte es haben, selbst wenn dem Hundetrainer diese Erziehung gelingen sollte – der Hund also dem Hundetrainer zutraut, für die gemeinsame Sicherheit sorgen zu können – der Halter aber anschließend in gewohnter Weise den Hund übernimmt und dieser dann mitnichten dessen Führungsrolle anerkennt.

Deshalb kann auch ich als Hundetrainer bei der Erziehung des Educandus quasi nur assistieren, insofern, indem ich dem Hundehalter demonstriere, wie er seinem Hund den Entscheidungsspielraum einschränken und simultan die Verantwortung für ihre beider Sicherheit übernehmen kann. Ausschließlich nur dadurch, dass der Hundehalter diese Rolle und Verantwortung übernimmt, die der Hund anerkennen muss, kann eine Erziehung erfolgreich und durch die Compliance des Halters nachhaltig sein.