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Ein kleiner akademischer Exkurs in die Crux mit der Komplexität
Über das leidige Problem des Fehlinterpretierens hündischen Verhaltens sowie seinen Ursachen und Folgen habe ich mich ja schon ausführlich geäußert. Dabei muss aber nicht nur das von mir erwähnte Vermenschlichen der Kreatur Hund und die dadurch bedingte unzulässige Deutung seines Verhaltens die Ursache sein, sondern es kann auch etwas völlig anderes „die Finger im Spiel haben“. Etwas, was im ersten Moment vielleicht ein wenig weit her geholt erscheint, aber bei genauerer Betrachtung doch als Begründung für so manch eine Fehlinterpretation und als Ursache falschen Verhaltens des Menschen dem Hund gegenüber zu taugen scheint, nämlich: Die Komplexität der Ursachen und Einflussfaktoren auf das hündische Verhalten in einer konkreten Situation, in der sich der Hund in einer bestimmten Art und Weise verhält; und die durch sie bedingte Unfähigkeit des Menschen, das Verhalten des Hundes korrekt zu interpretieren und dann folgerichtig zu reagieren.
Was ist damit gemeint? Für ein besseres Verständnis macht es Sinn, einen kleinen Exkurs in die Theorie des menschlichen Fehlverhaltens oder auch menschlichen Versagens zu unternehmen. Die Wissenschaft befasst sich seit langem mit den kognitiven Fehlern und ihren evolutionsbiologischen Grundlagen. Dabei untersucht man eine ganze Reihe von sogenannten Fehlerfamilien; die nicht nur negativ zu bewerten sind, sondern evolutionsbiologisch sogar Sinn machten und dem Menschen eben auch Vorteile im Überlebenskampf brachten, indem er dadurch in hoch komplexen Situationen überhaupt handelte, anstatt vor Angst oder Ehrfurcht zu erstarren. Pro Sekunde treffen auf die menschlichen Sinnesorgane mehr als eine Million Informationen. Diese zu verarbeiten, ist für die begrenzte Kapazität des Säugetiergehirns ein Ding der Unmöglichkeit. Also galt und gilt es, herauszufiltern und zu simplifizieren. Eine sich daraus ergebende Fehlerfamilie nennt sich Schnelligkeit und Vereinfachung durch Reduktion, die wiederum in zwei Bereiche unterteilt ist, nämlich in den Umgang mit Komplexität und in die Heuristiken.
Letzteres ist die Fähigkeit des Gehirns, in hoch komplexen Situationen, ohne Kenntnis aller Zusammenhänge, durch starke Vereinfachung eine halbwegs brauchbare Entscheidung zu treffen. Diese ist dann zwar hin und wieder falsch, aber in der Gesamtsumme wirkt es sich eben als Überlebensvorteil aus, überhaupt zu handeln, statt zu erstarren.
Ein Beispiel, dass auch Hunde diese Fähigkeit nutzen, kennt jeder: Wer hat sich nicht schon mal gefragt, wie es sein kann, dass sein Liebling die Frisbeescheibe, die man ihm zuwirft, mit relativ hoher Zuverlässigkeit auch tatsächlich fängt. Und das sogar selbst dann, wenn man sie ihm nicht direkt ins Maul schmeißt, sondern im hohen Bogen in eine völlig andere Richtung. Sein Fangversuch wird zwar nicht immer von Erfolg gekrönt, aber immerhin auffallend oft. Und das Ganze, ohne dass er wie unsereins im Physik- und Mathematikunterricht gesessen und schon mal etwas von Newtons Gravitationsgesetz oder Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie gehört und die Formel zur Berechnung einer Flugbahn auswendig gelernt hätte. In diesem Falle müsste er sogar nicht nur die Parabelfunktion mit all ihren zu berücksichtigenden Variablen wie Abwurfgeschwindigkeit, Abwurfwinkel, Gewicht, Gravitation usw. im Kopf haben, wie es „nur“ notwendig wäre, wenn man ihm einen Tennisball zuwerfen würde; sondern im Falle der Frisbeescheibe müsste er zusätzlich noch deren Auftriebskraft unter Berücksichtigung von Luftdichte, Flug- und Drehgeschwindigkeit, Auftriebsbeiwert, Auftriebsfläche, Staudruck sowie den Wind mit Stärke und Richtung mit in seine Berechnungen einbeziehen, um den Ort vorauszuberechnen, an den er sich zu begeben hat. Obwohl Bello diese Berechnungen nicht anstellen kann, läuft er trotzdem zielgenau dorthin, wo die Scheibe ihm quasi direkt ins Maul fällt oder er nur noch zuzuschnappen braucht. Wie kann das sein?
Die Antwort liefert die Heuristik: Weil Bello und Co. sich nicht des hochkomplexen Mittels zur Berechnung der Flugbahn bedienen, aus der sich der Ort ergeben würde, an den sie sich begeben müssen, um erfolgreich zu sein, sondern stattdessen eines wesentlich simpleren: Sie laufen einfach nur mit ständigem Blick zur Scheibe so, dass ihr Blickwinkel immerfort konstant bleibt. Das ist eine Fähigkeit des Säugetiergehirns, welches ihm evolutiv einen Vorteil brachte, indem es für hochkomplexe Entscheidungssituationen einen verblüffend einfachen Lösungsansatz wählt.
Das klingt natürlich erst einmal nach einem Segen. Aber wie so oft hat das Ganze auch seine Kehrseite, den Fluch. Und der kommt zum Tragen, wenn man Heuristiken dann und dort anwendet, wenn und wo sie gar nicht angebracht sind und die Protagonisten noch nicht einmal unter Zeitdruck handeln, sondern nur nicht willens oder in der Lage sind, sich alle notwendigen Kenntnisse für eine vernünftige Entscheidung anzueignen. Bei der Beurteilung des hündischen Verhaltens haben wir diese Zeit zur Aneignung notwendiger Kenntnisse aber eigentlich. Trotzdem neigen wir immer wieder zur Vereinfachung der Gründe, warum Bello und Co. sich so und nicht anders verhalten.
Für unseren Versuch, das Fehlinterpretieren hündischen Verhaltens durch den Menschen besser zu verstehen und zu erklären, macht aber die Betrachtung des erstgenannten Bereiches der erwähnten Fehlerfamilie noch etwas mehr Sinn, der sich da nennt: Umgang des menschlichen Gehirns mit Komplexität.
Zwei Fragen, die sich daraus im hiesigen Kontext ergeben, lauten: Was ist eine komplexe Situation bzw. wodurch ist sie gekennzeichnet? Und inwiefern trifft dies auf die Situation des hündischen Verhaltens und ihrer menschlichen Interpretation zu?
Auf die erste Frage gibt die Psychologie eine Antwort, indem sie die Merkmale einer komplexen Situation beschreibt:
„(…) Intransparenz, Dynamik, Vernetztheit und Unvollständigkeit oder Falschheit der Kenntnisse über das jeweilige System (…)“ (Dörner 1989, S. 59).
Eine komplexe Situation ist demnach daran zu erkennen, wenn es eine Vielzahl von Einflussfaktoren oder Merkmalen gibt, von denen noch nicht einmal alle bekannt sind, die sich obendrein auch noch verändern können und sich dadurch untereinander beeinflussen. Und noch schlimmer wird es, wenn der Mensch die wenigen Merkmale, die er kennt, obendrein auch noch falsch bewertet. Mit anderen Worten, der Mensch mit seinen begrenzten kognitiven Fähigkeiten, solche Situationen zu durchschauen, ist kaum in der Lage, bei seiner Entscheidungsfindung alle Merkmale zu berücksichtigen, die aber notwendig wären, berücksichtigt zu werden, wenn man eine vernünftige Entscheidung treffen will.
Auf die Situation mit einem hündischen Verhalten bezogen bedeutet dies, dass die Einflussfaktoren, warum ein Hund sich in einer konkreten Situation so und nicht anders verhält, vielseitig und gegenseitig beeinflussbar sind und eine Reihe von Ursachen haben können, von denen nicht alle bekannt sind oder falsch eingeschätzt werden.
Ein schönes Beispiel liefert eine Situation unmittelbar vor dem Gassi-Gehen, die sich auszumalen, sicherlich jeder im Stande sieht: Bello liegt dösend, ruhig und sichtbar entspannt auf seiner Decke, während Frauchen auf der Couch liegend höchst gelangweilt in einer Zeitschrift blättert und ab und zu an ihrer Tasse Tee nippt. Der Kreislauf beider ist heruntergefahren und der Parasympathikus des vegetativen Nervensystems hat alle Systeme auf Entspannungslevel gefahren.
Aber nun kommt Frauchen auf die Idee – wie es in einer nach Beamtendeutsch klingenden Quelle so schön heißt – den Hund zum Versäubern ins Freie zu führen. Dazu steht sie auf, was Bello zumindest zum Heben der Augenlider veranlasst, aber anschließend eine ganze Reihe von kausal verschlüsselten Aktivitäten auslöst, sowie für ihn Frauchens wahre Absicht aus konkreten Handlungsequenzen abzuleiten ist. Dazu zählen zum Beispiel nonverbale Indizien wie ihr Gang in Richtung Flur, das Rascheln ihrer Kleidung, das Klimpern mit dem Schlüsselbund oder der Griff zur Leine. Nahezu unmittelbar werden reflexartige Aktivitäten des Hundes sichtbar wie Gähnen, Hecheln und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein wildes Rotieren der Rute. Simultan beginnt Bello aber auch, auf und ab zu trappeln, und das nicht nur zur Tür hin, sondern auch von ihr wieder weg.
Wenn ich in solchen gestellten Situationen Frauchen oder Herrchen frage, wie sie diese Situation und das hündische Verhalten bewerten, höre ich prompt ebenso mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: „Der Hund freut sich“ oder „er ist aufgeregt und freut sich.“ Wenn ich dann weiter bohre, woran konkret man denn meine, insbesondere die Freude festzumachen? Dann kommt in der Regel wie aus der Pistole: „Na gucken Sie doch mal, wie er hechelt und mit dem Schwanz wedelt!“
Aber ist es das wirklich? Ich behaupte: Mitnichten grundsätzlich. Nur diese kurze Sequenz des hündischen Verhaltens kann nämlich durch eine ganze Reihe unbekannter Einflussfaktoren begründet sein. Und zwar durchaus auch hervorgerufen durch Einflussfaktoren weit weg von Freude und sonstigen angenehmen Gefühlen. Wenn Bello mit der Rute wedelt, ist das ein sicheres Indiz dafür, dass er zumindest psychisch angespannt ist und die weitere Entwicklung der Situation nicht sicher voraussehen kann. Das kann durchaus mit Freude korrelieren, muss es aber nicht. Im Extremfall ist es sogar ein Zeichen von purem Stress, welcher sich dann ergibt, wenn Bello für das Problem keine Lösung hat oder glaubt, die Situation nicht beeinflussen zu können und daraus eine potentielle Gefahr für seine Sicherheit ableitet. Die äußerlich identische Reaktion zeigt der Hund beispielsweise nicht nur aufgrund der Aktivierung seines vegetativen Nervensystems, indem der Sympathikus seinen Körper auf die bevorstehende physische Belastung vorbereitet und ihn mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt; deshalb das Gähnen und Hecheln und Herumlaufen. In diesem Falle also eine zunächst harmlos einzuschätzende Situation. Aber wie sieht es aus, wenn der Auslöser dieser Reaktion ein vor der Tür stehender Besucher ist, den er als Gefahr ausmacht. Dann wäre die Situation nämlich gar nicht mehr so harmlos. Und Herrchen oder Frauchen müssten sich fragen lassen, ob diese Revierverantwortung oder Verantwortung für die Sicherheit des „Rudels“, der er hier offensichtlich gerecht werden will, ihm willentlich und bewusst übertragen wurde, oder ob es das Ergebnis einer unzulänglichen Erziehung ist.
Noch anders sieht es aus, wenn Bello in der Vergangenheit bei seinen „Spaziergängen“ böse Erfahrungen gemacht haben sollte, weil ihm – meistens unbewusst – die Beschützerfunktion übertragen wurde, indem ihm im Rahmen seiner Erziehung diese Aufgabe nicht demonstrativ und konsequent abgenommen wurde. Wenn er also weiß, dass jetzt wieder einmal ein Streifzug durch vermintes Feindesland bevorsteht, welches er aufzuklären und jeden Feind sich und Frauchen vom Leibe zu halten hat. Das bedeutet, die jetzt gleichen wie zuvor beschriebenen und in Vorbereitung des Verlassens der Wohnung gezeigten Reaktionen, die durch das vegetative Nervensystem veranlasst wurden, haben keinen nur harmlosen, sondern einen Stress verursachenden Auslöser. Und dem sollte völlig anders begegnet werden als einem freudigen.
Hätte man in solchen Situationen das Mittel der Cortisol-Messung zum Nachweis des Stressniveaus zur Verfügung, wäre die Klärung der Verhaltensursachen natürlich einfach. Nur, das ist in der Alltagssituation nicht machbar. Es wäre aber möglich nachzuweisen, dass die äußerlich sichtbaren Indikatoren u.U. völlig identisch sind, obwohl sich die eigentlichen Auslöser in ihrem Charakter erheblich unterscheiden. Ein probates und alltagstaugliches Mittel zur Identifizierung der tatsächlichen Auslöser der Indikatoren bzw. Verhaltensmerkmale habe ich bereits im Beitrag unter dem Titel „Der Wandel in der Mensch-Hund-Beziehung“ genannt, indem Herrchen oder Frauchen sich in allen Verhaltenssituationen, die ihnen als auffällig oder störend vorkommen, die beiden in dem Artikel am Ende genannten Fragen beantworten.
Mit anderen Worten: Die Auslöser und Ursachen eines bestimmten Verhaltens des Hundes dürfen nicht nur losgelöst und isoliert in der unmittelbar aktuellen Situation gesucht werden, die vielleicht sogar, oberflächlich betrachtet, eine einleuchtende Rechtfertigung oder Erklärung hergeben, sondern können durchaus auch in solchen Dingen wie den gemachten Erfahrungen des Hundes in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen und den sich daraus für ihn in diesem Moment ergebenden Assoziationen und Erwartungshaltungen liegen, oder in seiner Ausbildung und seinem Erziehungsgrad, bis hin zu seinen sich aus der Rasse ergebenden Veranlagungen und der Zuchthistorie. Und ein weiterer wichtiger Faktor bei der falschen Beurteilung konkreten Verhaltens ist das Fehlinterpretieren einzelner Gesten oder Indikatoren in diesem Kontext, wie Wedeln mit der Rute, insbesondere deren Richtung; Nase und Maul Lecken; Kopfschütteln; dem Blickkontakt ausweichen und Wegdrehen usw.
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