versus
Wann fühlen sich Bello & Co. wohl?
Im Netz habe ich eine Zusammenfassung eines Fachgespräches (genannt Talk) gefunden, zu dem mehrere „DOGS-Experten“ eingeladen wurden; darunter einige, die durch die Medien recht bekannt sind. Sie wurden unter anderem dazu befragt, was denn eine artgerechte Hundehaltung sei.
Eine übrigens essenzielle Fragestellung, denn aus ihrer Beantwortung ließen sich sehr wohl nicht nur ganz konkrete Empfehlungen für Herrchen und Frauchen ableiten, so dass beide Seiten stressfrei durchs Leben laufen können, sondern auch Erkenntnisse dazu, unter welchen konkreten Umweltbedingungen sich ein Hund wohlfühlt. Eine wichtige Fragestellung in diesem Zusammenhang wäre beispielsweise gewesen, ob eine artgerechte Hundehaltung tatsächlich im Einklang steht mit dem Wohlbefindendes Hundes? Denn artgerecht korreliert nicht zwingend mit dem Wohlfühlen des Hundes, was sich sogar auf rechtliche Grundlagen auswirken müsste. Beispielsweise sind einige Forderungen in der Tierschutz-Hundeverordnung (TierSchuHuV vom Mai 2001), die postuliert der artgerechten Hundehaltung dienlich sein sollen, in Wirklichkeit überhaupt nicht förderlich für das Wohlbefinden des Hundes. Ich werde auf solche in einem meiner nächsten Beiträge eingehen.
Doch wer beim Zusammentreffen einer solch vermeintlich geballten Expertise konkrete, und vor allem für den Laien anwendbare und nützliche, geschweige denn kreative Antworten erwartete, wurde allerdings enttäuscht. Bis auf ganz wenige, relativ konkrete Aussagen, hielten sich die meisten Antworten mit allgemeinen Plattitüden auf, die die Zeit des Lesens nicht wert waren. Ich hatte den Eindruck, entweder hatten die eingeladenen Experten von dem, was da zur Diskussion stand, tatsächlich nur wenig Ahnung oder sie wollten ihre Geheimnisse nicht preisgeben. Einige Aussagen waren sogar schlichtweg falsch.
Was soll beispielsweise der Laie mit der folgenden “Expertise” anfangen?: „Was Hunde in erster Linie brauchen, sind emotional stabile Menschen, die wissen, was sie vom Leben erwarten.“ Dazu kann ich mir eine sarkastische Bemerkung nicht ersparen: Ich habe in meinem Buch “Problemhunde und ihre Therapie” meine Beobachtungen bei Berliner Obdachlosen und ihren Hunden beschrieben und dabei voller Bewunderung deren stressfreies Zusammenleben geschildert. Jetzt kann ich den Grund erahnen: Wahrscheinlich sind diese Hunde deshalb so entspannt und jenseits von allen Verhaltensauffälligkeiten, weil ihre Herrchen und Frauchen genau wissen, was sie vom Leben erwarten.
Oder was soll folgende “Expertise”?: „Letztendlich liegt es in der individuellen Kompetenz des Menschen, eine Mensch-Hund-Beziehung so zu gestalten, dass sie für beide zufriedenstellend und lebenswert ist.“
Hand auf’s Herz, wer wüsste jetzt, nach diesen beiden “Weisheiten”, was er machen soll, um einen Hund artgerecht zu halten oder sein Wohlbefinden zu fördern?
Eine der nur wenigen relativ konkreten Antworten, die jedoch zwingend einer weiteren Erläuterung bedurft hätte, kam von einem Verhaltensforscher:
„Für einen Hund ist es artgerecht, so eng wie möglich mit seinem Menschen zusammen zu sein. Zudem haben Hunde verhaltensbiologische Bedürfnisse, die es zu berücksichtigen gilt.“
Den ersten Satz könnte ich kommentarlos unterschreiben. Der zweite hätte aber unbedingt der Ergänzung bedurft, nämlich der Nennung und Erläuterung konkreter verhaltensbiologischer Bedürfnisse, die für das Wohlbefinden des Hundes von Bedeutung sind, und wie man sie effektiv und effizient befriedigt. Dann wäre das der beste Beitrag von allen Experten gewesen. Aber bedauerlicherweise erwähnt er zwar zwei Bedürfnisse, jedoch – so undifferenziert wie er sie nennt – mit einer verhängnisvollen und falschen Botschaft. Denn wenn er sagt, „…der Hund (ist) ein Lauftier, das viel Bewegung im Freien braucht und ein großes Erkundungsbedürfnis hat. Beides muss täglich befriedigt werden“, dann suggeriert er, dass ein Hund, der stundenlang entspannt in der Ecke liegt und kein Lauf- und Aufklärungsbedürfnis zeigt, sich nicht wohlfühle oder nicht artgerecht gehalten werden würde. Aber das ist mitnichten korrekt und schon gar nicht verhaltensbiologisch belegt. Das sollte ein Verhaltensforscher aber wissen.
An dieser Stelle hätte es, wenn es den Anspruch eines Expertenforums gehabt hätte, der Einschränkung bedurft, dass nur ein Hund, der die Verantwortung für ein Revier besitzt, diese genannten Bedürfnisse hat und befriedigen will. Würde dem gleichen Hund diese Verantwortung allerdings genommen oder gar nicht erst übertragen, hätte er kaum Interesse am „Herumjoggen“ oder „Aufklären“, und er würde sich mindestens genauso wohl, wenn nicht sogar noch wohler fühlen als sein gestresster Artgenosse.
Das soll nicht heißen, dass ein Hund sich nicht gerne bewegt und mit Frauchen oder Herrchen gerne herumtollt. Im Gegenteil, es ist seiner Physis und seinem Wohlbefinden durchaus förderlich, seine Muskulatur und seine psychische Leistungsfähigkeit zu trainieren. Aber es entspricht nicht zwingend seinen Grundbedürfnissen, deren Befriedigung seine artgerechte Haltung widerspiegelt.
Bei solch falschen Behauptungen wird negiert, worin die eigentliche Motivation eines Hundes am Herumlaufen und Erkunden besteht. Nämlich in seinem Interesse, die beiden Grundbedürfnisse nach Nahrung und Sicherheit zu befriedigen. Allerdings wird er deren Befriedigung immer mit dem geringstmöglichen Aufwand betreiben. Denn auch ihm ist das ökonomische Prinzip der Natur nicht fremd. Kein Hund würde, nur weil es ihm angeblich Freude bereite und er daran Spaß empfände, eine Hundewiese wild ausgelassen erkunden. Er macht das nur, wenn er glaubt, selbst für seine Sicherheit sorgen und seine Feinde und Konkurrenten erkennen und verbellen zu müssen. Und ob er bei dieser Arbeit tatsächlich glücklich ist, ist sehr fraglich. Denn wenn man solchen Hunden eine Urin- oder Speichelprobe zur Bestimmung der Stresshormone Adrenalin und Cortisol entnimmt, wird man eines Besseren belehrt.
Anders sieht es nämlich bei Bello & Co. aus, deren Grundbedürfnisse nach Nahrung und Sicherheit von Frauchen oder Herrchen zuverlässig befriedigt werden, indem sie ihnen neben ausreichend Nahrung vor allem in allen Lebenslagen Schutz bieten und keine Verantwortung für irgendein Revier übertragen. Bei diesen Hunden wird man vergeblich nach einem erhöhten Cortisol- oder Adrenalinspiegel suchen.
Trotzdem können beide Hunde, also sowohl der, dem die Verantwortung für ein Revier übertragen wurde und einen ausreichenden Entscheidungsspielraum zur Wahrnehmung dieser Verantwortung zugestanden bekommen hat, als auch der, dem die Verantwortung genommen wurde und absolut stressfrei durchs Hundeleben läuft, als artgerecht gehaltene Hunde bezeichnet werden. Insofern wäre doch eine solche Diskussion, in der eine artgerechte Hundehaltung konkret benannt und deren nicht zwingende Korrelation mit dem Wohlbefinden des Hundes diskutiert worden wäre, den Experten würdig gewesen.
Aber noch eine Aussage eines teilnehmenden Experten bedarf unbedingt des Kommentars und der Richtigstellung: “Wenn Hunde nicht mehr kommunizieren dürfen, wenn sie nicht mehr knurren oder markieren dürfen, ohne gleich als dominant oder aggressiv beurteilt zu werden, haben wir in unserem Land ein großes Problem. Einem Hund alles zu verbieten, finde ich nicht mehr artgerecht. Hunde müssen ihr normales Verhalten ausleben dürfen.”
Dieses Statement enthält mehrere fatale Botschaften und vor allem Unrichtigkeiten. Zunächst sollte sich dieser Experte einmal selbst die Frage stellen, ob er seine beiden letzten Sätze genau so vor einem Gericht wiederholen würde, in dem die Ursachen und Konsequenzen einer Hundeattacke auf ein kleines Mädchen verhandelt werden, das bei diesem Vorfall lebensgefährlich verletzt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde? Solche Aussagen sind schlichtweg grober Unfug. Einen Hund sein normales Verhalten ausleben zu lassen, kommt einer groben Fahrlässigkeit gleich. Zumindest hätte der Experte diesen Satz in seiner verallgemeinernden Darstellung einschränkend kommentieren müssen.
Und was meint der Experte damit, dass es offensichtlich Forderungen gäbe, dass ein Hund nicht mehr markieren dürfe? Auf welcher Erkenntnisgrundlage basiert und in welchem Kontext steht eine solche Expertise? Ich kenne keine kompetenten HundetrainerInnen, die zu solch einem Unsinn raten würden, abgesehen von der sehr unwahrscheinlichen Machbarkeit. Vielmehr ist es sachlich richtig und sollte jedem Experten bekannt sein, dass das Markieren des Reviers ein untrügliches Indiz dafür ist, dass dieser Hund Revierverantwortung besitzt. Und nur, aber auch nur dann, wenn ein Hund aufgrund dieser Revierverantwortung zu Aggressionen oder sonstigem unerwünschten Verhalten wie beispielsweise Verbellen neigt, welche durch eine Erziehung beseitigt werden sollen, besteht der Trainingsansatz und das Ziel darin, dem Hund diese Revierverantwortung zu nehmen. Und im Ergebnis einer erfolgreichen Entbindung von dieser Verantwortung wird dann der Hund höchst freiwillig das Markieren unterlassen, weil es dafür schlichtweg keinen Grund mehr für ihn gibt. Es ist also nur ein Nebeneffekt, aber mitnichten ein bewusst durch Verbot gewollter.
Und noch eine Korrektur kann ich mir nicht verkneifen, auch wenn noch eine Reihe weiterer Unrichtigkeiten eines Kommentars bedürften: Ein mit Sachverstand ausgestatteter Experte sollte wissen, dass ein Hund nicht dominant ist. Mit Dominanz wird eine Beziehung beschrieben, keine Wesensart.
Abschließend sei mir noch eine Bemerkung zu einer Fragestellung gestattet, die von der Moderatorin an die Runde der Experten gerichtet wurde: “Ist der Besuch von Welpenspielstunde, Junghundgruppe und Beschäftigungsgruppe nicht unverzichtbar, wenn ich meinen Hund artgerecht durchs Leben begleiten möchte?”
An dieser Stelle hätte ein Aufschrei durch die illustre Runde der Experten gehen müssen: “Um Himmels Willen, genau das Gegenteil ist der Fall!”
105. Der „differenzierte Beschützerinstinkt“ eines Hundes
oder Ist die Erziehung eines Hundes personengebunden und somit auch nicht übertragbar? Um die Antwort auf die Frage vorwegzunehmen: Ja,...
104. Warum Hundetrainer oftmals bei der Erziehung versagen
oder Wie könnte Sokrates ihnen helfen, die Ursachen ihres Scheiterns selbst zu erkennen? (Des angenehmeren Lesens wegen verzichte ich auf eine...
103. „Positive Bestärkung“ und andere Irrtümer der Hundeerziehung
oder Was kann eine Konditionierung überhaupt bewirken? Gibt man bei Google den Suchbegriff Hundeerziehung ein, um nach Empfehlungen Ausschau zu...