oder
Wie oft sollte Ihr Hund joggen?
Eine Hundehalterin fragte mich, was ich denn von folgender Empfehlung halten würde, die eine Hundeschule ihr quasi als Lösung ihres Problems mit auf den Weg gegeben habe. Sie hatte sich an die Hundeschule gewandt mit der Bitte, ihren Vierbeiner von seinen Leinenaggressionen zu befreien. Da aber alle Versuche, Ihren Aggressor in einen intra- und interspezifisch sozialisierten Musterknaben zu verwandeln, scheiterten, entließ man sie mit der Diagnose und Empfehlung, ihr Liebling sei offenbar physisch nicht ausgelastet, was sich in seinen Verhaltensauffälligkeiten manifestiere, und sie möge deshalb unbedingt mehr für seine Bewegung tun; sie solle ihn quase regelmäßig physisch an seine Leistungsgrenzen bringen, dann werde sich ihr Problem schon irgendwann erledigen.
Übrigens, wie meine anschließenden Recherchen ergaben, eine offenbar nicht selten getroffene Diagnose und Empfehlung. Deshalb habe ich mich zu diesem Artikel entschlossen.
Aber um nicht gleich wieder als belehrender Besserwisser dazustehen, habe ich der jungen Frau ein Gedankenspiel vorgeschlagen. Und sie solle dann jeweils für sich entscheiden, ob sie meinen Gedanken weiter folgen wolle oder nicht und sich anschließend selbst ein Urteil bilden:
“Nehmen wir also einmal an, dass sich vor ca. 30 Tausend Jahren – oder mehr (so genau weiß die Wissenschaft das immer noch nicht) – ein paar mutige Wölfe entschlossen haben, sich in die Nähe des Menschen zu begeben, um daraus für sich einen Überlebensvorteil zu generieren. Denn bekanntlich war damit der Startschuss gegeben für eine der erfolgreichsten Domestikationen in der Tierwelt. Kein anderes Lebewesen hat derart clever das Zusammenleben mit dem Menschen zu seinem eigenen Vorteil entwickeln und ausnutzen können.
Außerdem nehmen wir an, dass der Mensch seinerzeit dieses Streben des Wolfes nicht nur geduldet und wohlwollend zur Kenntnis genommen habe, sondern daraus auch seinerseits vermocht, einen Vorteil zu ziehen. Denn der Wolf war zwar sein Nahrungskonkurrent aber ihm aus dieser Rivalität eben auch als mutiger Jäger bekannt, dessen Jagdfähigkeiten und Instinkte ihm durchaus dienlich sein konnten.
Aber ein weiteres Wesensmerkmal machte den Wolf für ihn mindestens genauso interessant. Nämlich seine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstverteidigung, die auf seinem Grundbedürfnis nach Sicherheit basiert. Denn ein Wolf muss stets selbst für seine physische Unversehrtheit sorgen.
Indem also sowohl der Wolf als auch der Mensch es geschickt auszunutzen verstanden, aus diesem Zusammentreffen jeweils ihre Vorteile zu ziehen, schufen sie die Grundlage für eine der erfolgreichsten Symbiosen in der Geschichte der Säuger.
Und nun nehmen wir weiterhin einmal an, dass der Mensch irgendwann auf die Idee gekommen sei, sich diesen Wolf zu züchten, um sich ihn und seine Fähigkeiten noch perfekter zu Diensten machen zu können. Denn nicht alles, was der Wolf an Wesenszügen besaß, war für ein nützliches Zusammenleben perfekt. Beispielsweise seine nach wie vor wesenseigene Scheu und mangelnde Zutraulichkeit. Aber auch seine Bereitschaft, konkrete Aufgaben auf Kommando auszuführen, ließen wahrscheinlich stark zu wünschen übrig.
Aber es gab natürlich auch ihm wesenseigene Instinkte und Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben mit ihm nahezu ideale Voraussetzungen boten und deshalb im Rahmen der Züchtungen nicht nur beibehalten, sondern sogar durch zielgerichtete Selektionen noch weiter verstärkt wurden. Und dazu zählen seine Fähigkeiten zum Hüten, Beschützen und Bewachen. Insbesondere die beiden letztgenannten Stärken spielten und spielen in vielen Zuchtlinien bis heute eine herausragende Rolle. Und sie waren deshalb relativ leicht zu verstärken, weil sie auf der Befriedigung seines Grundbedürfnisses nach Sicherheit basierten und damit der sogenannten intrinsischen Motivation (von innen kommend) unterlagen. Sie bedurften also keiner äußeren oder zusätzlichen Stimulierung; im Gegenteil, der Wolf – und dann eben auch der Hund – verteidigten sich und alles, was ihnen anvertraut wurde, aus einem ureigenen Interesse.
Die einzige Voraussetzung, dass der Hund sozusagen von selbst sich und seine ihm anvertrauten Personen oder Ressourcen bewacht, beschützt oder verteidigt, ist, ihn von dieser Verantwortung nicht zu entbinden. Mit anderen Worten: Ihn einfach machen lassen.
Somit können wir doch wohl annehmen, dass jeder Hund, dem die Instinkte zum Bewachen und Beschützen quasi ins Genom geschrieben sind, und man ihn nicht bewusst und demonstrativ von dieser Verantwortung entbindet und statt seiner diese Verantwortung übernimmt, jeder dieser Hunde instinktiv und im Interesse seiner eigenen Sicherheit alles ihm Mögliche unternimmt, um sich und seine ihm anvertrauten Personen und Ressourcen zu verteidigen. Und dazu nutzt der Hund sein gesamtes ihm zur Verfügung stehendes agonistisches Verhaltensrepertoire einschließlich aller Arten von Aggressionen.
Warum? Weil er dazu gezüchtet wurde!
Wir können deshalb – denke ich – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass jeder Hund mit diesen Veranlagungen, wenn er nicht willentlich und bewusst intra- und interspezifisch sozialisiert, also erzogen wird (was nichts anderes ist, als seine Entbindung von der Verantwortung für seine eigene Sicherheit oder die anderer Personen und Ressourcen), grundsätzlich sich und sein Frauchen verteidigt; und deshalb auch an der Leine den Aggressor spielt.”
„Und nun …“ sagte ich zu der jungen Frau „… stellen Sie sich vor, jemand käme daher und würde behaupten, Sie könnten ihren Liebling von seiner Verantwortung für seine eigene und Ihre Sicherheit – die er offensichtlich besitzt, wie seine Leinenaggression belegt – erfolgreich entbinden, indem Sie mit ihm täglich mehrmals durch Wald und Flur joggen.”
Quatsch, oder?
Denn das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, man könne mittels eines ausgeklügelten Fitnessprogramms einen Hund erziehen bzw. sozialisieren und alle Hunde – oder zumindest die überwiegende Mehrheit – die regelmäßig einer hohen physischen Belastung ausgesetzt seien, würden keine oder nur selten Verhaltensauffälligkeiten zeigen und seien lieb und nett wie die Lämmer.
Also bei allem Respekt …?!
Aber, um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe hiermit nichts gegen eine physische Auslastung Ihres Vierbeiners gesagt. Nicht nur dem physischen, sondern auch dem psychischen Wohlbefinden eines Hundes ist es durchaus dienlich, wenn Sie regelmäßig mit ihm herumtollen. Aber lassen Sie sich nicht solch einen haarsträubenden Unfug weismachen, dass Ihr Liebling an der Leine zum Aggressor werde, wenn er sich physisch unterfordert fühle. Er sieht sich und Sie lediglich in seiner und Ihrer Sicherheit beeinträchtigt.
Mir kam in diesem Zusammenhang meine 91-jährige Oma in den Sinn, die mir ständig voller Selbstbewunderung erklärt, dass sie regelmäßig Kreuzworträtsel löse, weil sie damit ihr Gehirn vor Demenz und Alzheimer schütze. Da ich sie in ihrem hohen Alter nicht noch entmutigen will, und außerdem ihre geistige Fitness noch beachtenswert ist, unterlasse ich ihr gegenüber natürlich meine schulmeisterliche Belehrung. Aber manchmal reizt es mich schon und ich möchte sie zu gerne korrigieren: Das Einzige, wofür das ständige Kreuzwort-Rätsel-Raten dienlich ist, ist die Entwicklung ihrer Fähigkeit, Kreuzwort-Rätsel lösen zu können.
Ebenso wie das ständige Joggen aus Ihrem Hund lediglich einen fitten Jogger macht; aber eben keinen intra- und interspezifisch sozialisierten Musterknaben.
Es gibt allerdings eine Ausnahme, die ich auch in meinem Buch „Problemhunde und ihre Therapie“ beschrieben habe. Nämlich wenn der Hund einer derart hohen psychischen Belastung ausgesetzt ist, so dass diese in einen Stress mündet. Das ist immer dann der Fall, wenn das Tier das Gefühl entwickelt, keinen Einfluss mehr auf das weitere Geschehen zu haben; sozusagen hilflos seinem Schicksal ausgeliefert zu sein scheint (ich habe dazu das Experiment mit den beiden Ratten beschrieben, bei dem nur eine von ihnen Einfluss auf das Geschehen hatte und die andere sozusagen tatenlos zuschauen musste und deshalb Stresssymptome entwickelte). Und wenn nun ein solch psychisch belasteter Hund therapiert werden soll, ist es unter Umständen sinnvoll, ihn zuvor physisch bis zur Erschöpfung auszulasten, damit er überhaupt mental „ansprechbar“ und somit therapierbar ist. Ähnlich wie ein gestresster Mensch sich auch kaum still in die Ecke setzt, sondern sich zur mentalen Entlastung Laufschuhe anzieht und durch den Wald joggt oder wie ein Wahnsinniger auf einen Sandsack eindrischt. Denn anschließend fühlt er sich wohler, obwohl der eigentliche Auslöser seines Stresses, also die Stressursache, damit noch lange nicht beseitigt ist. Dazu bedarf es dann der eigentlichen Ursachenbeseitigung. Im Falle des Hundes in der Regel seine Entbindung von irgendeiner Verantwortung, der er offensichtlich nicht gerecht werden kann oder darf und deshalb in einen riesigen Konflikt gerät.
Aber diese Ausnahme traf auf den Fall meiner Hundehalterin, die mich um meine Meinung und Hilfe gebeten hatte, nicht zu.
Und übrigens, wir haben ihren Liebling und sie relativ schnell und ohne großen Aufwand von der Leinenaggression befreit. Und das Ganze, ohne ihn und uns physisch zu verausgaben. Wir haben dazu lediglich einen völlig entspannten Sparziergang unternommen.
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