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Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten
Ich sehe mich veranlasst, meinem letzten Beitrag „In eigener Sache“ noch ein paar Bemerkungen anzufügen. Die Reaktionen und Kommentare auf meine Fachbeiträge im Allgemeinen und auf meinen vorletzten im Besonderen zwingen mich hin und wieder dazu. Dabei geht es mir diesmal nicht um die mangelnde Sachlichkeit oder beleidigende Ausfälligkeit mancher Kommentare. Nein, es geht mir diesmal vielmehr um einen mir gemachten Vorwurf, der meiner Ansicht nach kaum in böser Absicht erfolgte, sondern wahrscheinlich aus Unüberlegtheit gepaart wohl auch mit ein wenig Naivität.
Es geht um den Vorwurf, dass in meinen Fachbeiträgen konkrete Handlungsempfehlungen fehlen würden. Es wird zwar anerkannt, zumindest in einigen Kommentaren, dass ich die theoretischen Zusammenhänge und Hintergründe meines Trainingskonzeptes ausführlich und leicht verständlich erläutere, aber die konkreten Praxishinweise ausblieben; man vermisse quasi die Anleitung zum Handeln.
Als ich darüber nachdachte, kam mir eine Szene aus dem Lieblingsfilm meines Vaters in den Sinn: Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten. Diesen Film hat er sich wohl mehrere dutzend Male angeschaut und sich immer wieder aufs Neue köstlich amüsiert, wenn Oberst Manfred von Holstein, alias Gert Fröbe im Brustton seiner Überzeugung herausposaunte, dass es nichts gebe, was ein deutscher Offizier nicht könne. Denn es gebe ja schließlich eine „Heeresdienstanweisung zur Bedienung eines Flugzeugs“, Zitat: „Nummer 1: Hinsetzen!“.
Vielleicht kann sich der eine oder die andere noch an diesen Filmklassiker erinnern, in dem Lord Rawnsley im Jahre 1919 einen spektakulären Wettflug über den Ärmelkanal von London nach Paris veranstaltet. Dem Gewinner winkte ein Preisgeld von 10.000 Pfund, das wagemutige Draufgänger aus der ganzen Welt nach London lockte. Allerdings schafften es nicht alle dieser fragilen Flugmaschinen von der Insel auf den Kontinent – die meisten endeten in Misthaufen, Eisenbahntunneln, Heuschobern und übel riechenden Rieselfeldern. Und einer unter ihnen, der preußische Oberst Manfred von Holstein, der sich kurzfristig wegen seines an Durchfall leidenden Offiziers genötigt sah, die Ehre Preußens zu retten und selbst die Flugmaschine zu steuern, sah darin jedenfalls keine unlösbare Aufgabe. Denn obwohl er von den Künsten der Fliegerei weniger als gar keine Ahnung hatte, meinte er voller Selbstüberschätzung, dass einem deutschen Offizier eine Vorschrift genüge, und dann könne es doch nicht so schwer sein, solch eine Flugmaschine durch die Luft zu steuern. Aber das Ganze endete, wie zu erwarten, im Ärmelkanal. Auch wenn das konkrete Scheitern szenisch mit dem plötzlichen Verlust der Heeresdienstanweisung inszeniert wurde, sollte schon der gesunde Menschenverstand das Misslingen eines solchen Unterfangens prophezeien. Zu welchem Zwecke sollte man ansonsten Flugschulen erfunden haben.
Offensichtlich genügt es nicht, ein Handwerk erfolgreich auszuüben, nur mit Hilfe einer Handlungsanweisung unter dem Arm. Und sei sie noch so detailliert.
Ich gebe zu, solch ein Gedanke, den man weiterspinnen und auch auf eine Handlungsanweisung zur Erziehung eines verhaltensauffälligen Hundes beziehen könnte, ist nicht der einzige Grund, warum ich auf die Nennung konkreter Methoden und einzelner Handlungsabläufe verzichte. Denn immerhin handelt es sich dabei um nicht weniger als mein Know-how, das ich mir über viele Jahre Praxis angeeignet und deren theoretische Grundlagen mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode der Falsifikation habe bestätigen lassen. Und mit diesem Know-how bestreite ich meinen Unterhalt.
Aber daraus resultieren noch zwei weitere Gründe, sie mich davon Abstand nehmen lassen, konkrete Handlungsanweisungen zu publizieren.
Ich erinnere mich an eine passende Geschichte dazu, die mir mein Vater einmal erzählte. Er hatte viele Jahre in einem Luftfahrtunternehmen gearbeitet, das als Zulieferer an namhafte Flugzeugbauer Ausrüstungsteile lieferte. Solche Unternehmen, die der Zulassung durch eine Luftsicherheitsbehörde bedürfen, müssen ein spezielles Qualitätsmanagementsystem eingeführt haben, im Rahmen dessen sie den Nachweis erbringen müssen, dass ihre Produkte stets und ständig eine hohe Qualität in Form der sogenannten Lufttüchtigkeit aufweisen. Dazu betreibe man auch einen enormen administrativen Aufwand in Form des Dokumentierens und Beschreibens des gesamten Managementprozesses. Beispielsweise gebe es für jeden einzelnen Herstellungsschritt eines Produktes detaillierte Verfahrens- oder Handlungsanweisungen einschließlich Prüfkriterien mit sehr genauen Beschreibungen aller wesentlichen Handgriffe. Mit anderen Worten: Es gibt nichts, was nicht beschrieben ist. Der Laie könnte nun vermuten, die Kenntnis solcher Dokumente sollte doch wohl genügen, um ein solches Produkt qualitätsgerecht herstellen zu können.
Aber weit gefehlt. Als dieser Unternehmensbereich an einen amerikanischen Wettbewerber verkauft wurde und ihm alle Maschinen, Werkzeuge und sonstige Produktionsmittel sowie alle Dokumente einschließlich dieser Verfahrens- und Handlungsanweisungen ausgehändigt wurden, sah man sich trotzdem gezwungen, die Mitarbeiter des neuen Herstellers in einem mehrmonatigen Schulungsprozedere fit zu machen. Aber selbst das genügte noch nicht. Man benötigte anschließend immer noch relativ viel Zeit, bis die Produktion am neuen Standort mit den neuen Mitarbeitern einigermaßen störungsfrei und qualitätsgerecht ins Laufen kam.
Was ist der Grund dafür?
Die Antwort lautet schlicht und ergreifend: Dem neuen Unternehmen fehlte etwas, was man weder kaufen, erklären noch erfragen kann. Nämlich das Wichtigste und auch Wertvollste an einem Know-how: Die Erfahrung, oder auch Empirie genannt. Sie ist sowohl ein hoch komplexer und fortlaufender Prozess als auch das Ergebnis der kognitiven Verarbeitung subjektiv wahrgenommener Erlebnisse eines jeden Mitarbeiters, indem diese Erlebnisse mit bereits abgespeicherten Kenntnissen und Erfahrungen in ihren Gehirnen abgeglichen, verknüpft und in veränderter Form erneut abgespeichert werden. Dazu zählen insbesondere auch die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im sogenannten impliziten Teil des Gedächtnisses der Menschen “abgelegt” und deshalb dem Bewusstsein unzugänglich und somit auch nicht reflektierbar oder erklärbar sind. Allerdings können und werden diese durch das Unterbewusstsein ständig genutzt und offenbaren sich manchmal in Form von verblüffenden Reaktionen und Verhaltensweisen ihrer „Besitzer“, die nicht selten zur eigenen Verwunderung Anlass geben: “Nanu, wie hab‘ ich denn das hinbekommen?“ Aber es gehören auch die vielen unbewusst abgespeicherten – weil erfolgreichen – Verhaltensweisen und Reaktionen in den unterschiedlichsten erlebten Situationen und Entscheidungsmomenten dazu, die erst den gesamten Prozess eines erfolgreich handelnden Unternehmens ermöglichen; die jedoch nie und nimmer beschrieben werden könnten. Mit anderen Worten: Dieser Teil des Know-how kann nur durch eigenes Erleben und eigene erfolgreiche Praxis einschließlich der erlebten Rückschläge der neuen Mitarbeiter selbst im wahrsten Sinne des Wortes „erlernt“ und „erlebt“ werden.
Und adäquat verhält es sich mit dem unmöglichen Versuch, eine Trainingsmethode zur Erziehung oder Sozialisierung bzw. Resozialisierung von verhaltensauffälligen Hunden, die auf viele Jahre persönlich gemachten Erfahrungen basiert, in ihren komplexen Beurteilungs-, Entscheidungs- und Handlungssequenzen beschreiben zu wollen; selbst wenn man wollte.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich in den Anfängen meiner Trainertätigkeit so manches Mal frustriert war über das unbefriedigende Ergebnis meiner Arbeit. Und daran war nicht nur das falsche mir vermittelte Fachwissen Schuld, das heute bedauerlicherweise bei der Ausbildung angehender HundetrainerInnen immer noch zur Anwendung kommt, verbrämt unter dem Deckmantel des „modernen Hundetrainings“, und das ich in meinen Beiträgen ständig versuche, in seiner Falschheit zu entlarven. Nein, die Ursache lag vorwiegend in der mir noch fehlenden Erfahrung.
Denn sie wiegt im hiesigen Kontext umso schwerer, da wir es bei einem verhaltensauffälligen Hund mit einem sogenannten autopoietischen System zu tun haben (wie ich es in meinem letzten Buch auch ausführlich erläutert habe). Das heißt, alle Reaktionen eines Hundes auf die auf ihn einwirkenden Umwelteinflüsse – und damit auch auf jedes Detail im Rahmen seines Erziehungs- oder Sozialisierungsversuches – sind das Ergebnis seiner subjektiven Verarbeitung dieser Einflüsse; und somit kaum oder gar nicht berechenbar wie beispielsweise bei einer Maschine. Quasi reagiert jeder Hund anders auf einzelne Elemente des Trainings. Und dabei haben oftmals kleinste Nuancen sowohl in seinen Wahrnehmungen als auch im Verhalten und Reagieren des Trainers Einfluss auf das Ergebnis. Und diese sind eben kaum oder gar nicht reflektierbar, sondern nur durch die im Unterbewusstsein ablaufenden Prozesse in ihrem Erfolg begründbar.
Und nun nehmen wir einmal an, ich würde mich trotzdem dazu entschließen, eine Art Handlungsanweisung oder Algorithmus zur Sozialisierung oder Erziehung verhaltensauffälliger Hunde – unter Berücksichtigung all ihrer möglichen Facetten – zu veröffentlichen, so dies überhaupt im Rahmen des Möglichen läge. Aber nehmen wir die Machbarkeit trotzdem einmal an. Und nehmen wir jetzt außerdem an, jemand würde versuchen, diesen Algorithmus nachzumachen und würde scheitern. Denn die Wahrscheinlichkeit für Letzteres sollte man aus den oben beschriebenen Gründen nicht unterschätzen.
Mit welchen Reaktionen im anonymen Netz wäre ich dann wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit konfrontiert? Ich glaube kaum, dass ich dann auf die Loyalität der Gescheiterten bauen könnte, indem er oder sie selbstkritisch zur Einschätzung kämen, dass die Methode sicherlich erfolgversprechend sei, jedoch eine Handlungsanweisung allein offensichtlich keine Erfolgsgarantie begründe, weil die eigenen Unzulänglichkeiten und vor allem die eigene Unerfahrenheit dem Erfolg im Wege stünden.
Nein, ich glaube eher, dass ich mich dann seitens solcher Damen, die mir und meinen LeserInnen schon jetzt – unter Ausnutzung der ihnen offensichtlich viel Mut verleihenden Anonymität des Netzes – Äußerungen zumuten, die an Beleidigungen grenzen, erst recht ihrer Häme ausgesetzt sähe. Die Herrschaften, die jetzt schon mit solchen Einschätzungen wie „das sei doch totaler Schwachsinn“ daherkommen, ohne auch nur ein einziges sachliches Gegenargument zu bringen, würden dann sicherlich süffisant genüsslich dieses Forum nutzen, um das Scheitern meiner Trainingsmethode zu verkünden. Und das Ganze, ohne sich in der Pflicht zu sehen, ein einziges fachlich begründetes und falsifiziertes Gegenargument vorbringen zu müssen.
Warum sollte ich meinen LeserInnen und mir so etwas antun?
Vielmehr ist mein Ziel auch weiterhin, meine Trainingsmethode und ihre theoretischen Grundlagen hinsichtlich ihrer fachlichen Begründetheit durch möglichst viele Argumente – auch durch Beweisführungen mithilfe angrenzender Fachgebiete wie der Anthropologie und den Neuro- oder Kognitionswissenschaften – zu erklären und verständlich zu machen. Im Ergebnis dessen möchte ich, dass die LeserInnen auf der Grundlage dieser theoretischen Erläuterungen und Beweisführungen sich in die Lage versetzt sehen, selbst einschätzen zu können, ob sie meiner Trainingsmethode vertrauen können und mich kontaktieren sollten, wenn es darum geht, ihre Vierbeiner von ihren “Macken” zu befreien. Denn das Training selbst bleibt meine Passion.
Und ich werde auch weiterhin den vielen enttäuschten HundehalterInnen eine Stimme geben, die oftmals schon mehrere gescheiterte Hundeschulbesuche hinter sich haben, weil an ihren Vierbeinern mit Methoden herumgedoktert wird, die zur Erziehung eines Hundes faktisch ungeeignet sind. Und in diesem Zusammenhang werde ich auch weiterhin immer wieder erklären, warum Methoden, die zur Ausbildung eines Hundes durchaus geeignet sind, auch trotz sehr verlockender Umschreibungen wie „positive Bestärkung“ o.ä. verführerischer Umschreibungen der Konditionierung, beim Versuch der Erziehung oder Sozialisierung bzw. Resozialisierung eines verhaltensauffälligen Hundes zum Scheitern verurteilt sind.
Also bleiben Sie bitte weiterhin neugierig und kritisch. Und versuchen Sie nicht, ein Flugzeug über den Ärmelkanal zu steuern, ohne eine gültige Fluglizenz ihr Eigen zu nennen.
Ihr Sascha Bartz
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