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Das fehlende Glied im Handlungsaufschub
Ich habe an dieser Stelle bereits mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich als Hundetrainer ausschließlich auf die Erziehung oder Resozialisierung von verhaltensauffälligen Hunden konzentriere und ich auch nur die sich daraus gewonnenen Erkenntnisse hier in meinen Beiträgen thematisiere. Das heißt natürlich nicht, dass diese nicht verallgemeinert und – falls die Erziehung überhaupt notwendig sein sollte – ebenfalls bei unauffälligen Hunden angewendet werden könnten, zumindest selektiv.
Aber die zum Teil sehr kritischen Reaktionen, die auf meine Beiträge folgen, lassen mich vermuten, dass die KritikerInnen dem Irrtum unterliegen, dass die von mir vertretenen Theorien meiner Meinung nach grundsätzlich auf jeden Hund, unabhängig davon, ob er auffällig geworden sei oder nicht, zwingend anzuwenden seien. Das ist aber mitnichten der Fall. Im Gegenteil, denn noch nicht einmal jeder Hund bedarf überhaupt der Erziehung. Dies habe ich auch ausführlich sowohl bereits mehrmals hier an dieser Stelle als auch in meinem Buch, unter anderem im Kapitel „Dialog mit dem Urgroßvater“, begründet. Denn die Erziehung eines Hundes an sich ist vielmehr erst dann angezeigt, wenn es einen Konflikt gibt zwischen seinem Dispositionsgefüge (seine Veranlagungen, Instinkte und angezüchteten Verhaltensweisen) und seinem von ihm im Alltag tatsächlich erwarteten Verhalten.
Ein typisches Beispiel wäre der Deutsche Schäferhund. Er verfügt durch sein Dispositionsgefüge über ideale Voraussetzungen, nicht nur eine Herde von Schafen hüten und beschützen zu können, sondern gleichwohl alles, was ihm an Personen und Ressourcen anvertraut wurde sogar beschützen zu wollen. Wäre nun eine solche adäquate Aufgabe die ihm übertragene und das einzige von ihm erwartete Verhalten, gäbe es keinen einzigen Grund, an diesem Dispositionsgefüge durch Erziehung (was laut Definition Gegenstand und Ziel einer Erziehung ist) irgendetwas ändern zu wollen. Jedoch sieht der typische Alltag eines heutzutage angeschafften Schäferhundes in der Regel völlig anders aus. Kaum ein Schäferhund soll heute noch Schafe hüten. Auch wird ihm nur in wenigen Fällen heute noch bewusst der Schutz von Haus und Hof übertragen. Vielmehr obliegt ihm im Zeitalter der Wohlstandsgesellschaft – zumindest belegen meine Erfahrungen und die typischen Problemfälle, zu denen ich gerufen werde, einen solchen Eindruck – eher die Aufgabe, als familienfreundlicher Sozial- und Schmusepartner zu taugen. In solchen Fällen kommt man dann jedoch an seiner Erziehung nicht vorbei. Denn werden solche Hunde, bei denen ein ausgeprägtes Aggressionspotential als Bestandteil ihres agonistischen Verhaltensrepertoires durch jahrzehnte- oder teilweise sogar jahrhundertelange Selektion und Züchtung fest verankert wurde, nicht erzogen, kommt es unausweichlich zu intraspezifischen und interspezifischen Konflikten. Will heißen, es besteht dann die reale Gefahr aggressiver Übergriffe nicht nur innerhalb ihrer Spezies, sondern insbesondere auch gegenüber Menschen. Warum? Das habe ich bereits in vielen Beiträgen begründet.
Was mich diesmal veranlasst, auf das Thema noch einmal einzugehen, war die Frage einer Kundin, die mich zuvor um Hilfe gebeten hatte, weil ihr Hund plötzlich – und ihrer Meinung nach völlig unerwartet – ein fremdes Kind attackiert hatte. Glücklicherweise hielt sich der Schaden insofern in Grenzen, da das Kind mit dem Schrecken davonkam (was allerdings schlimm genug ist). Und sie betonte ausdrücklich, dass das Verhalten ihres Hundes angeblich niemals zuvor Anlass bot, mit einer solchen Gefahr rechnen zu müssen. Es passierte – wie sie es formulierte – aus heiterem Himmel.
Im Übrigen eine typische Causa oder Anatomie solcher Vorfälle, wenn ein Hund, dessen Dispositionsgefüge alle Voraussetzungen bietet, seine ihm anvertrauten Personen und Ressourcen beschützen und verteidigen zu wollen; er jedoch nicht ausdrücklich durch Erziehung von der sich daraus für ihn ergebenden Verantwortung entbunden wurde. Und zu diesen Hunden zählen nicht nur die sogenannten Listenhunde.
Die Frage der Kundin lautete nun sinngemäß: Warum beiße ein Hund plötzlich und ohne Vorwarnung zu, obwohl er vermeintlich ein ganz Lieber sei?
Die Antworten auf die Frage, warum ein Hund zubeißt, sind heutzutage hinlänglich bekannt und finden sich beispielsweise im Netz in Hülle und Fülle; und ich habe hier weder vor, diese wiederzukäuen noch ihnen neunmalklug etwas hinzuzufügen. Ich will vielmehr versuchen, mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Gehirnforschung ein Verständnis dafür zu vermitteln, dass der Hund von Hause aus – wie man landläufig sagt – oder neuroanatomisch begründet eigentlich gar nicht anders kann, als zuzubeißen, so man diesen Reflex nicht durch Erziehung unterdrückt; und damit nochmal die zwingende Notwendigkeit der Erziehung mancher Hunde zu begründen.
Es gibt ein interessantes Buch von John J. Ratey, Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, dessen Lektüre mich auf einen interessanten Zusammenhang aufmerksam machte und eine alternative Antwort auf die gestellte Frage bietet und damit unbeabsichtigt ein zusätzliches Argument pro Hundeerziehung liefert. Das Buch heißt „Das menschliche Gehirn – Eine Gebrauchsanweisung“. Zugegeben, dem Titel nach ein etwas weit hergeholter Bezug zur Erziehungsnotwendigkeit eines Hundes, aber trotzdem des Überdenkens wert.
Im Kapitel „Sprache“ erklärt der Autor nämlich, welche evolutionsbiologische Bedeutung für den Menschen die Fähigkeit zum Sprechen gehabt habe und inwiefern sich daraus einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Mensch und Tier (in unserem Fall zwischen Mensch und Hund) ergebe. Er weist in diesem Zusammenhang nach, dass erst die Fähigkeit des Menschen zu sprechen ihm die Möglichkeit nicht nur zur hoch komplexen Verständigung offenbarte, sondern er erst dadurch sein zukünftiges Handeln planen und steuern konnte. Und zwar könne man sagen, dass die Sprache ursprünglich als ein Instrument entstand, eine Verzögerung in das Handeln einzubauen, um das Zusammenleben des Menschen in großen und komplexen Gruppen zu ermöglichen und Chaos zu vermeiden. Denn wenn jeder Mensch in diesen Gruppen, ähnlich einem Tier, auf jeden Reiz impulsiv, unmittelbar und reflexartig mit einer Handlung reagiert hätte, wäre das Zusammenleben unmöglich gewesen. „Sprache verfeinert das Denken und entwickelt es weiter. Sie ermöglicht uns, zum gegenwärtigen Geschehen eine Distanz einzunehmen und Objekte im Bewusstsein als Symbole verfügbar zu halten, so dass wir sie im Geiste auf verschiedene Weise anordnen und potentielle Handlungsmöglichkeiten durchspielen können, ehe wir dann tatsächlich zur Tat schreiten. Das Moment des Handlungsaufschubs ist für gezieltes Tun entscheidend. Durch die Sprache wird unser Handeln unabhängiger von den emotionalen Impulsen, die unsere unmittelbaren Wahrnehmungen auslösen.“
Das heißt, erst durch die Sprache sind wir in der Lage, nach einem Reiz die Reaktion hinauszuzögern und erst dadurch moralische Entscheidungen treffen zu können, unseren Ärger im Zaum zu halten und sogar unsere Gefühlsregungen richtig wahrzunehmen. Erst durch die Sprache können wir die Konsequenzen unseres folgenden Handelns abwägen und einer moralischen oder ethischen Bewertung unterziehen bevor wir handeln. Er schreibt, bei Kindern lasse sich am besten beobachten, wie Sprache das Handeln leite. In vielen Untersuchungen sei nachgewiesen worden, dass Kleinkinder, die laut mit sich selbst reden und sich Anweisungen geben, während sie mit einer Aufgabe beschäftigt seien, diese Aufgabe leichter bewältigen und bei dem Versuch, das Problem zu lösen, ihr Verhalten besser steuern können. Im Verlauf der weiteren Entwicklung ebbe das „Selbstgespräch“ dann zum Flüstern ab und sei in der Grundschulzeit schließlich vollständig verinnerlicht und unhörbar geworden.
Störungen dieses Systems können durchaus erhebliche Folgen haben. „Die Fähigkeit zum Selbstgespräch kann im Wesentlichen auf zwei Arten gestört sein. Die erste Störungsquelle ist Impulsivität oder Impulsgetriebenheit, das heißt eine Einschränkung … der Reaktionshemmung, die das Hauptdefizit bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD/HS) darstellt.“ Solche Menschen fänden keine Zeit für die sekundären Verarbeitungsprozesse, die notwendig wären, um sich von den momentan auf sie eindringenden Reizen zu lösen. Daraus entstehe das Nichtbezähmenkönnen von Wut und Ärger. „Die zweite Störungsquelle ist eine Einschränkung der Fähigkeit, Sprache ausreichend präzise oder mühelos einzusetzen, um zwischen Reiz und Reaktion ein Verzögerungsintervall einzuschieben.“
Will heißen, durch die Sprache verfügen wir Menschen über die Möglichkeit und das Instrument, impulsives Verhalten zu unterdrücken. Dieses Glied fehlt dem Hund. Er verfügt nicht über ein solches retardierendes Moment, wie der Fachmann sagt. Bei einem Hund folgen in der Regel auf den Reiz sofort die Reaktion und Handlung. Und diese werden biologisch vorgegeben durch sein Dispositionsgefüge.
Kennt man nun das Dispositionsgefüge eines Hundes (beispielsweise durch Kenntnisse über seine Rasse) oder kann man sie nur erahnen (beispielsweise aufgrund seiner suspekten Vorgeschichte) und ergibt sich daraus potentiell ein Konflikt oder Widerspruch zum im Alltag von ihm erwarteten Verhalten, muss man durch Erziehung ein im übertragenen Sinne hemmendes Glied simulieren bzw. ersetzen, so dass sein impulsives Verhalten weitestgehend unterdrückt wird.
Meine Erfahrungen besagen nun, dass ein solches „hemmendes Glied“ nur scheinbar durch eine Konditionierung „eingefügt“ werden kann. Denn durch sie wird in der Regel nicht der Grund für sein impulsives Verhalten beseitigt, sondern maximal der auslösende Reiz durch Überlagerung durch den Konditionierungsreiz vertuscht, die außerdem nur temporär und kaum nachhaltig wirkt. Solange diese Überlagerung stark genug ist, mag die Konditionierung scheinbar von Erfolg gekrönt sein. Aber am Dispositionsgefüge kann eine Konditionierung nur sehr wenig, wenn nicht sogar gar nichts ändern.
Eine erfolgversprechendere Lösung ist – zumindest nach meinen Erfahrungen – die Erziehung, denn sie nimmt direkt Einfluss auf das erwähnte Dispositionsgefüge durch Manipulation eines der Grundbedürfnisse. Allerdings kommt man bei einer solchen Reiz-Reaktions-Unterdrückung, von der ich hier spreche, nicht um eine konsequente und energische Art der Erziehung herum. Will heißen, mit „Wattebällchen und Leckerlies“ hat das dann nichts zu tun; aber auch nicht zwingend mit Gewalt, was man mir zu gerne unterstellt.
Im Übrigen, bevor der eine oder die andere bei der Assoziation des Begriffes Gewalt jetzt tief Luft holen, sollten wir uns noch einmal vergegenwärtigen, von welchen Hunden ich hier in meinen Artikeln ausschließlich spreche. Exemplarisch sind dies nämlich Hunde, die eine reale Gefahr nicht nur für ihresgleichen, sondern ebenso für unbeteiligte Menschen und insbesondere Kinder darstellen. Ich rede hier ausdrücklich nicht von Oma Hedwigs Schoßhund (wenn Sie verstehen, was ich meine). Welche absurden Ausmaße und verschobenen Relationen eine falschverstandene Tierliebe mittlerweile angenommen hat, ist mir vor einiger Zeit wieder einmal widerfahren und hat mir beinahe die Sprache verschlagen. Eine Kundin hatte mich um Hilfe gebeten, weil ihr Bullterrier ein kleines dreijähriges Mädchen angefallen hatte und dieses nur durch ein unvorstellbares Glück der Katastrophe entkommen war. Bevor ich mich mit dem Hund befassen konnte, fragte die Kundin mich nämlich mit einem ängstlichen Unterton: „Aber sie tun ihm doch nicht weh, oder?“ Meine Reaktion brachte sie dann doch etwas zum Nachdenken, denn ich fragte sie, ob denn das kleine Mädchen noch Schmerzen hätte.
Aber Empörung beiseite; wenn ich von „konsequent“ und „energisch“ spreche, dann ist damit mitnichten physische Gewalt in Form von Schlägen o.ä. gemeint. Sondern vielmehr eine sofortige, unmittelbare und unter allen Bedingungen jederzeitige Demonstration des Unerwünscht-Seins dieses Verhaltens dem Hund gegenüber, sowie er auch nur das geringste Anzeichen aggressiven Verhaltens gegenüber Kindern zeigt; so dass ihm verdeutlicht wird, dass Kinder unter dem besonderen Schutz stehen und Aggressionen ihnen gegenüber ein absolutes No-Go ist. Neben allen körperlichen Anzeichen, die der Hund im Rahmen seines Aggressionspotentials zeigt, muss insbesondere bereits auf das Knurren in dieser Weise reagiert werden. Und zwar nicht mit einem ablenkenden Konditionierungsreiz oder gar mit einer defensiven Schlichtungs- oder Rückzugsgeste, die ihm sogar noch ein manifestierendes Erfolgserlebnis verschaffen würde, sondern mit einer offensiven erzieherischen Demonstration, die dem Hund die Kausalität zwischen seinem Verhalten und dem No-Go unmittelbar verdeutlicht. Erst dadurch kann er die soziale Regel erkennen und verstehen. Und glauben Sie mir, ein Hund ist diesbezüglich nicht sentimental nachtragend. Im Gegenteil, in seiner Welt – und dies kennt er nicht nur aus seiner Lehrzeit als Welpe – ist es Routine, dem anderen energisch seine Grenzen zu zeigen, ohne dass der andere einen mentalen Schaden davontrüge. Wenn es nicht so wäre, würden die meisten Hunde deprimiert und beleidigt durch die Welt schlürfen.
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