oder
Der Streit mit den Kognitionsbiologen?
Nachdem wir den Hund von seinen unerwünschten Verhaltensweisen – wie dem nervenden Zerren an der Leine und dem stressigen Ankläffen jedes in Sicht kommenden Wesens – hatten befreien können und er nun quasi wie ausgewechselt, und sogar ohne Leine, an Herrchens Seite daher trottete, war es mir nicht entgangen, dass dem Kunden eine Frage auf der Seele brannte. Offensichtlich traute er dem Frieden nicht so ganz. Denn wie konnte es sein, dass sein „Aggressor“, mit dem bis dato weder ein entspanntes Umherstreifen durch Mutters einsame Natur noch ein genüssliches Bummeln durch urbane Umgebung möglich war, plötzlich und nach einem einzigen Training mutmaßlich zu einem „Lamm“ mutiert zu seien schien? Und das Ganze sogar ohne all die ihm bisher angeratenen Ablenkungs- und Konditionierungsversuche via Leckerli, Klicker oder sonstigen mit wichtig und metaphorisch daherkommenden Begriffen wie Ankereffekt o.ä. betitelten Tricks. Die allerdings, wie er eingestand, auch allesamt und trotz des Verbrauchs mehrerer Zehnerkarten von wenig bis gar keinem Erfolg gekrönt waren. Und nun plötzlich, nach nur einem einzigen „Spaziergang“ (wie er selbst anschließend formulierte), hatte sich sein „Hundeproblem“ gewissermaßen in Luft aufgelöst. Das konnte vermeintlich nicht mit rechten Dingen zugehen.
Deshalb ermutigte ich den Kunden mit den Worten: „Heraus mit der Sprache, was bewegt Sie?“
„Nun ja, es ist mir schlichtweg unerklärlich, wie es sein kann, dass ein Hund im Allgemeinen und meiner im Besonderen sich derart schnell und offensichtlich grundlegend in seinem Verhalten ändern kann. Und das Ganze scheinbar ohne Gewalt; abgesehen von Ihrem konsequent wirkenden Agieren meinem Hund gegenüber. Könnte es sein, dass er deshalb jetzt nur Angst hat oder vielleicht sogar beleidigt ist und deshalb lammartig neben mir herläuft?“
Das mit der Angst konnten wir schnell und für den Kunden nachvollziehbar ausschließen. Denn dazu hätte es entweder der Anwendung oder zumindest der Androhung von Gewalt oder irgendeiner Bedrohung durch mich bedurft, die das Sicherheitsbedürfnis des Hundes zumindest mutmaßlich beeinträchtigt. Er musste aber anerkennen, dass dies mitnichten geschehen war, denn ich habe den Hund lediglich in den entscheidenden Momenten, in denen er sich aus Sicht des angestrebten Erziehungszieles falsch verhielt, konsequent korrigiert und ihm gleichzeitig demonstriert, dass es für sein unerwünschtes Verhalten ab sofort keinen Grund mehr gibt. Von Gewalt, die durch den Hund vermeintlich als unangenehm oder vielleicht gar als bedrohlich hätte interpretiert werden können, konnte in keinster Weise (um semantisch passend einen sogenannten absoluten Superlativ zu verwenden) die Rede sein.
Also blieb noch die Frage nach der Moral; denn beleidigt zu sein setzt eine solche kognitive Fähigkeit voraus. Und so kamen wir auf ein spannendes Thema, welches ich auf Bitten des Kunden hin hier einmal thematisieren sollte:
Haben Hunde eine Moral? Kennen sie Empathie oder Altruismus? Haben sie ein Selbstbewusstsein und sind zur Selbstreflexion fähig? Sind ihre Emotionen denen des Menschen gleich oder ähnlich?
Die kurze Antwort lautet: Man weiß es noch nicht so wirklich. Oder anders ausgedrückt, die Fachwelt streitet sich noch heftig.
Die längere:
Die Wissenschaft teilt sich diesbezüglich – wie in solchen Fällen nicht unüblich, wenn die Forschungsergebnisse noch nicht unwiderlegbar sind – in zwei Lager. Die einen meinen „Ja“ und die anderen „Unmöglich“. Letztere glauben, ihre Kritik damit begründen zu können, dass die subjektiven geistigen Erlebnisse wie Denken und Fühlen durch wissenschaftliche Methoden nicht direkt zugänglich seien und deshalb nicht belegbar. Beim Menschen könne man dies wenigsten partiell durch seine Fähigkeit zum Sprechen kompensieren. Außerdem sei die Sprache, die den Tieren nun einmal nicht vergönnt sei, ohnehin die ultimative Voraussetzung zu höheren kognitiven Leistungen.
Rückendeckung bekommen die Kritiker von den theistischen Vertretern der Spezies Mensch, an deren Ego die Vorstellung ohnehin empfindlich nagt, Tiere seien zu höheren kognitiven Leistungen ähnlich dem Menschen befähigt. Nicht wenige Hardliner der christlichen Schöpfungslehre (aber nicht nur sie) haben ohnehin und existentiell, spätestens seit Darwins Abstammungslehre, ein riesiges Problem damit, anerkennen zu müssen, dass wir nur ein etwas besserer Affe sind.
Und die große Uneinigkeit wird noch dadurch befördert, dass es nach wie vor noch keine einheitlichen Definitionen für grundlegende Begrifflichkeiten wie Bewusstsein oder Selbstbewusstsein gibt.
Demgegenüber sehen die Befürworter in der Unmöglichkeit, subjektive Erlebnisse messen zu können, jedoch kein ausreichendes Argument gegen das Vorhandensein kognitiver Fähigkeiten. Hinzu komme, dass es die evolutionäre Kontinuität im Reich der Organismen es als sehr unwahrscheinlich mache, dass die Kognition ohne Vorstufen erst beim Menschen auftrete.
Meine Sympathie mit dem Standpunkt der Befürworter habe ich bereits in einem meiner Bücher offenbart und mich dort der Auffassung von Marc Bekoff angeschlossen, der sinngemäß dazu rät, allen Tieren, bei denen solche Fähigkeiten wie Trauer, Empathie oder Selbstbewusstsein nicht nachweisbar auszuschließen seien, ebendies sicherheitshalber als vorhanden zu unterstellen.
Es gibt einen noch relativ jungen Wissenschaftszweig namens Kognitive Ethologie, oder in einer allgemeineren Form Kognitionsbiologie, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt und bei Tieren bereits ein breites Repertoire an moralischen Verhaltensweisen nachweisen konnte. Wichtige Vertreter dieser Fachrichtung sind neben Marc Bekoff auch José Bermúdez, Allen Collin, J. Goodall, Donald R. Griffin usw.
Der österreichische Kognitionsbiologe Ludwig Huber beispielsweise widerspricht jedenfalls dem Grundsatz der christlichen Ethik, die da meint, dass die Moral den Menschen vom Tierreich trenne.
Für dieses irrtümliche Dogma der Kirche gibt es nämlich allerhand Gegenbeweise. Beispielsweise ist es belegt, dass Hunde spüren, wenn es Herrchen oder Frauchen nicht gut geht. Oder sie scheinen genau zu wissen, wann sie einen Fehler begangen haben. Auch können Hunde nachweisbar einschätzen, ob Frauchen aus ihrer Position etwas sehen kann oder nicht und davon abhängig ein mit Bestrafung sanktioniertes Verbot bewusst umgehen oder eben nicht. Sie stehlen beispielsweise ein Stück Fleisch nur dann, wenn sie wissen, dass Frauchen aus ihrer momentanen Position ihr Fehlverhalten nicht beobachten kann. Damit könnte beispielsweise bewiesen sein, dass ein nichtmenschliches Tier in der Lage ist, etwas wie eine richtige „Theorie des Geistes“ zu entwickeln. Denn Ludwig Huber beschreibt, dass damit die Fähigkeit bezeichnet wird, sich in den anderen hineinzuversetzen oder sogar den Inhalt des Denkens eines anderen Wesens sich als etwas vorzustellen, das sich vom eigenen unterscheidet.
Und es gibt Hinweise, dass Hunde ein Selbstbewusstsein besitzen; also zu wissen, wer sie sind. Dazu bediente man sich in abgewandelter Form des bereits bei Kindern angewandten Spiegelversuchs, mit dem man ursprünglich nachweisen konnte, dass kleine Kinder etwa ab dem zweiten Lebensjahr ein Selbstbewusstsein entwickeln. Man malte oder klebte den Knirpsen unbemerkt einen kleinen farbigen Punkt auf die Stirn und stellte sie vor einen Spiegel. Und erst mit ca. 2 Jahren fassten sie sich daraufhin an die eigene Stirn, um den Punkt zu beseitigen und nicht, wie bis dahin, an das Spiegelbild. Indem man nun Hunde ihr eigenes Spiegelbild vorhielt, sie dieses aber weitestgehend mit Desinteresse quittierten, kam man zu dem Schluss, dass sie sich bewusst sind, sich selbst zu sehen. Denn ansonsten müsste man annehmen, dass sie, wie sonst üblich, zumindest ein Interesse an ihrem Artgenossen zeigen, wenn nicht sogar Aggressionen ihm gegenüber.
Ludwig Huber schreibt, dass die Fülle der empirischen Evidenz es nahelege, dass die menschliche Moral ihren evolutionären Ursprung in den Emotionen und Denkprozessen, die wir mit anderen Tieren teilen, habe. „Verhaltensbiologen und vergleichende Psychologen können heute zeigen, dass beginnend mit der ‚emotionalen Ansteckung’ auch Formen der Empathie (Einfühlung) und sogar der Sympathie auftreten, bei der situationsspezifische Wünsche und Bedürfnisse des anderen von den eigenen unterschieden werden.“
Kurzum – und um auf die eingangs vom Kunden gestellte Frage zurückzukommen, ob sein Hund eventuell beleidigt sei, weil er sich scheinbar wie die berühmte Leberwurst verhielt –, die Frage musste ich differenziert beantworten. Wenn wir sie nämlich dahin gehend verallgemeinern, ob ein Hund generell zu der kognitiven Leistung des Gefühls Beleidigtsein fähig ist, lässt sie sich offenkundig noch nicht wirklich klar beantworten. Da sollten wir der kognitiven Ethologie oder Kognitionsbiologie noch ein paar Jahre Forschung zugestehen. Aber was den speziellen Fall meines Kunden betrifft, dessen Hund nach unserem Training vermeintlich eingeschnappt an seiner Seite trottete; den konnte ich mit ruhigem Gewissen als nichtzutreffend beurteilen. Denn das, was den Eindruck einer vom Hund vermeintlich demonstrativ zur Schau getragenen Emotion hinterließ, entpuppt sich nämlich bei näherer und sachlicher Betrachtung als nichts anderes als das Ergebnis des angestrebten Trainings; nämlich als seine Tiefenentspanntheit.
Warum? Das Ziel eines Erziehungstrainings (nicht einer Ausbildung/Konditionierung) besteht nämlich darin, den Hund von seiner Verantwortung für die Sicherheit (für seine eigene und/oder die seiner ihm anvertrauten Personen und/oder Ressourcen) zu entbinden, die er ansonsten (in Abhängigkeit seiner Rasse und Zuchthistorie) selbstständig übernimmt. Zwei typische Indikatoren dafür, dass der Hund sie übernommen hat sind übrigens (so wie auch bei diesem hier beschriebenen Hund) die beiden unerwünschten Verhaltensweisen Zerren an der Leine (Aufklärungswille) und Verbellen (Abwehr und Einschüchterung potenzieller Rivalen oder Feinde). Indem wir ihm nun im Rahmen des Trainings diese Verantwortung genommen und ihm demonstriert haben, dass ab sofort Herrchen für beider Sicherheit sorgt, fiel, metaphorisch ausgedrückt, quasi eine riesige Last von seinen Schultern. Die Verantwortung, die er zuvor hatte und die ihm u.U. sogar einen oftmals nicht als solchen erkannten Stress bescherte (bei vielen Hunden zeigt sich dieser z.B. in pathologischen Befunden wie Fellproblemen) war jetzt urplötzlich verschwunden.
Und nun stelle man sich einmal vor oder versetze sich selbst in eine ähnliche Situation, man würde uns von jetzt auf gleich von einer schier unerträglichen Last befreien. Wie sehe optisch in diesem Moment wohl unsere Reaktion aus (auch ohne dem Anthropomorphismus auf den Leim zu gehen)?
Und wenn eine solche psychische oder mentale Entlastung eines zuvor gestressten Tieres sich in einer scheinbaren beleidigten Leberwurst manifestiert, denke ich, sollten wir viel mehr Hunde in den Genuss des Schmollens kommen lassen. Dazu brauchen wir sie nur zu erziehen.
Noch eine abschließende Bemerkung, bevor man mir wieder vorwirft, ich wolle allen Hunden den Spaß verderben, weil ich sie angeblich der sie glückselig machenden “Kommunikation” mit ihresgleichen beraube. Solange das Verhalten des Hundes genau dass ist, was Herrchen oder Frauchen von ihm erwarten und sowohl sie als auch andere Teilnehmer am öffentlichen Leben nicht stört, belästigt oder gar gefährdet, sollte meinetwegen jeder Hund das Revier nach Herzenslust aufklären, markieren und mit seinen Rivalen wetteifern. Aber eben nur dann. Allerdings sind das nicht diejenigen Herrchen oder Frauchen, die mich um Hilfe bitten, ihren Hund von seinen vermeintlichen Macken zu befreien. Ich spreche in meinen Beiträgen ausschließlich von solchen Fällen, in denen der Hund zumindest ein unerwünschtes, wenn nicht sogar andere gefährdendes Verhalten an den Tag legt und der Hund sozialisiert werden muss.
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