oder wann können Herrchen und Frauchen etwas falsch machen?
Kunden, die zu mir kommen mit der Bitte, ihnen zu helfen, weil ihr Hund aggressiv sei, reagieren in der Regel irritiert, wenn ich sie im Rahmen der Ursachenklärung frage, wovor denn ihr Hund Angst habe. Reflexartig kommt dann die Antwort, mit der man mich korrigieren will: „Nein, nein, mein Hund ist nicht ängstlich, im Gegenteil, er ist aggressiv!“
Offensichtlich unterstellt man nur selten, dass die Ursache von Aggressionen auch in der Angst des Hundes begründet sein kann. Das liegt wahrscheinlich an der Assoziation, die der Begriff Aggression vermittelt. Hier geht man eher von einer vom Aggressor aktiv ausgehenden Angriffshandlung aus und nicht von einer Abwehrhandlung wie es die Angst vermuten lässt.
Jede Aggression ist eine Verteidigung
Fakt ist aber, dass jedwede aggressive Reaktion, wie der Begriff es schon andeutet, eine Reaktiondes Hundes auf einen äußeren Stimulus ist, der für ihn entweder eine Gefahr oder eine Bedrohung signalisiert und deshalb eine physiologische Reaktion bewirkt. Anders ausgedrückt: Jede Aggression ist eine Verteidigung. Sei es die Verteidigung der physischen Unversehrtheit, die durch Angst stimuliert oder die Verteidigung jedweder Ressource, die durch eine Bedrohung seiner Nahrung, seines Besitzes oder seines Territoriums ausgelöst wird. Eine Ausnahme besteht nur im Rahmen der Jagdaggression. Diese ist aber mit den sonstigen nicht zu vergleichen, da sie andere Entwicklungssequenzen durchläuft.
Die häufigste Aggression ist die Angstaggression
Die häufigste Aggressionsart – zumindest bei meiner Klientel – ist die, die durch Angst ausgelöst wird. Dabei handelt es sich um sehr unterschiedliche Gründe, deren Folgen auch in sehr unterschiedlichen Lebensphasen des Hundes erworben sein können. Daher ist es für die Hundehalter(innen) von Bedeutung zu wissen, wann ihr Schützling in seinem Leben sensible und ihn prägende Phasen durchläuft, in denen möglichst „kein Unsinn“ passieren sollte.
Die prägenden Entwicklungsphasen des Hundes
Das hündische Leben startet mit der so genannten neonatalen Phase (neonatal – das Neugeborene betreffend), die bis zum 12. Lebenstag reicht. In der daran anschließenden transitionalen Phase (Übergangsphase), die bis zum 21. Tag verläuft, erfolgt eine starke neurologische Entwicklung.
Der Beginn der Sozialisation
Die ersten prägenden Dummheiten können passieren zwischen der dritten und fünften Woche. Hier verfügen die Welpen bereits über sensorische und auch motorische Fähigkeiten und signalisieren Aufgeschlossenheit gegenüber sozialen Interaktionen. Dann sollte kein traumatisierender Unsinn passieren, indem man ihn dem Risiko sozialer Bösewichter aussetzt.
Die zweite Phase der Sozialisation läuft zwischen der sechsten bis zur zwölften Woche; eine kritische Phase im Rahmen der Entwicklung sozialer Anpassungen. Hier zeigen Hunde schon ängstliches Verhalten vor ihnen bisher unbekannten Stimuli. Dies ist eine sehr wichtige Zeit der Anpassung an jegliche Umweltreize. Wenn der Hund später eine hohe Flexibilität, ähnlich der eines Phlegmatikers, gegenüber allen möglichen und unmöglichen Reizen, gegenüber unterschiedlichen Artgenossen oder Menschen an den Tag legen soll, dann sollte er während dieser Zeit solche Reize möglichst im Überfluss mit absoluter Abwesenheit von Angst nahezu inhalieren. Während dieser Phase stellt sich, wenn alles klappt, ein Ausgleich zwischen neugierigem Interesse und vernünftiger Angst her.
Ich rate jedem, der einen künftigen Behindertenbegleithund oder einen Spezialisten mit ähnlich gelagerter Aufgabe haben will, diese Phase sehr fürsorglich zu absolvieren. Denn hier werden seine wichtigen Wesensmerkmale, die er für seine spätere Aufgabe benötigt, programmiert.
Wird der Hund später Angsthase oder Aggressor?
Zwischen der zehnten und sechszehnten Woche kommt es zur Herausbildung sozialer Hierarchien. Und was besonders wichtig ist, ist das Verständnis für Ressourcen, welches sich jetzt etabliert. Denn jetzt lernt der Hund unterschiedliche Variationen des Aggressionsverhaltens einschließlich der Beißhemmung. Eine kritische Phase, falls jemand jetzt auf die nicht sehr witzige Idee kommt, ihn in eine Welpenspielgruppe zu schicken. Dann sollte jedem klar sein, dass der kleine Welpe unter Umständen ein traumatisierendes Erlebnis erfährt und so sein Leben lang entweder der typische Angsthase oder Aggressor sein wird. Ich rate jedenfalls dringend davon ab. Lernen fürs Leben sollte der kleine und künftige Held lieber unter fürsorglicher und im Falle des Falles sofort beschützend eingreifender Aufsicht von Herrchen und Frauchen in individuellen Kontaktaufnahmen zu Seinesgleichen oder anderen Spezies.
Erlerntes Angstverhalten im späteren Alter beruht auf dem Fehlverhalten von Herrchen und Frauchen
Ist die Angstaggression erst im Hundeerwachsenenalter entstanden, liegt der Grund in einer ihm zugebilligten zu großen Entscheidungsbefugnis. Und die hat er dadurch, dass Herrchen oder Frauchen ihm entweder zu viele Ressourcen zugesteht, für die er die Verantwortung trägt, oder – und das ist die mit Abstand häufigste Form eines zu großen Entscheidungsspielraumes – ihm keinen ausreichenden Schutz bietet; er also selbst für seine Sicherheit zu sorgen hat. Seine dann gezeigten Angstreaktionen nennt Herrchen und Frauchen dann Aggressionen; er selbst würde, wenn man ihn fragen könnte, das Ganze aber ganz anders bezeichnen: Mein Recht auf Selbstverteidigung.
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