oder
Warum steht manchmal in meinen Texten, was da gar nicht steht?
Ich habe schon einige Male verlauten lassen, dass ich mich grundsätzlich über jeden Diskussionsbeitrag und jeden Kommentar, insbesondere auch kontroverse, freue, die jemand als Reaktion auf meine Fachbeiträge schreibt. Dazu bedarf es nur zweier Bedingungen: Sie sollten sachlich formuliert sein und den ernsthaften Willen nicht vermissen lassen, konstruktiv an einer Wahrheitsfindung teilhaben zu wollen. Meine Erkenntnisse, die ich hier zur Diskussion stelle, will ich bekanntlich nicht als alleingültige Wahrheit oder gar Axiom verstanden wissen, sondern als Beitrag zur Versuch einer Falsifikation bestehender Theorien der Hundeerziehung – zu der sich im Übrigen jeder verpflichtet sehen sollte, der eine Theorie, Hypothese oder gar nur eine These formuliert oder vertritt. Der Verhaltensforscher Konrad Zacharias Lorenz hat es einmal treffend formuliert:
“Die meisten von uns – dessen müssen wir uns bewusst sein – lieben ihre Hypothesen, und es ist, wie ich einmal sagte, eine zwar schmerzhafte, aber jung und gesund erhaltende Turnübung, täglich, gewissermaßen als Frühsport, seine Lieblingshypothese über Bord zu werfen.”
Da auch ich mir dieses Problems bewusst bin, seinen eigenen Hypothesen gegenüber zu schnell den kritischen Blick zu verlieren, denn sie sind meistens das Ergebnis langjährigen Bemühens, die man nicht so gerne bereit ist, über den Haufen zu werfen, bin ich dankbar für jeden Diskussionsbeitrag, der mich zwingt, mich immer wieder aufs Neue mit ihnen auseinanderzusetzen und ihre Gültigkeit zu hinterfragen.
Aber es gibt noch weitere Gründe, warum ich kontroverse Diskussionsbeiträge begrüße: Sie sind nicht selten Quelle neuer Themen, auf die ich dann in meinen Beiträgen eingehen kann. Und sie sind für mich auch ein wichtiger Indikator, ob ich mich verständlich oder eventuell missverständlich ausgedrückt habe.
Zu dieser Kategorie von Kommentaren zählt auch eine besondere Art von Widerreden. Nämlich solche, die vorgeben, einer von mir getroffenen Aussage zu widersprechen, obwohl ich eine solche Aussage gar nicht getroffen habe; oder wenn der Autor/die Autorin meint, mir zu widersprechen, tatsächlich ihr Widerspruch aber exakt meiner Darstellung entspricht.
Mein Vater, der meine Beiträge lektoriert und somit regen Anteil nimmt, amüsiert sich nicht nur über solche Beiträge, sondern „sammelt“ sie regelrecht. Er hat über viele Jahre Seminare und Schulungen in Luftfahrtunternehmen geleitet, bei denen es um die Ursachenklärung menschlichen Versagens oder Fehlverhaltens geht. Und eines der Themen, das dabei behandelt wird, ist die Fehleranfälligkeit menschlicher Wahrnehmung, um auf der Grundlage ihrer Analyse Fehlervermeidungsstrategien zu entwickeln. Und so konnte er auch folgendes Beispiel in seine „Sammlung“ aufnehmen:
Auf einen meiner letzten Artikel, in denen ich wie schon des Öfteren den Grundtenor vertrete, dass mittels einer Belohnung keine Erziehung möglich sei, sondern lediglich eine Konditionierung, schrieb ein Herr H. F.:
Zitat: „Die Behauptung, mit Belohnung sei keine Verhaltensänderung zu erzielen, ist wissenschaftlich widerlegt. Mittels Belohnung lassen (sich) Konditionierungen erzielen, die medizinisch nachweisbare Veränderungen im Gehirn erzeugen…“
Bevor ich dazu Stellung nehme und meine zuvor beschriebene Vermutung belege, will ich eine Bemerkung meines Vaters vorausschicken:
Und zwar sei das Phänomen des Hineininterpretierens in eine Wahrnehmung gar nicht so selten und werde deshalb sogar explizit in einem Forschungszweig namens „social perception“ (soziale Wahrnehmung) thematisiert. Dieser untersuche, wie sich Erfahrungen, Bedürfnisse und auch Erwartungen auf die sinnliche Wahrnehmung auswirken würden. Am Beginn stünde der Reiz oder die Reizaufnahme und am Ende das Sinnerlebnis. Dazwischen würden subjektive Elemente – beispielsweise die Erwartung – das Resultat beeinflussen und oftmals zu seiner Verfälschung führen. Da das Gehirn ununterbrochen Vorausberechnungen zum weiteren Geschehen anstelle, produziere es quasi auch ständig neue Erwartungen zu dem, was gleich geschehen werde. Wenn dann das reale Geschehen eintrete und beides stimme nicht überein, komme es nicht selten zu dem Phänomen, dass die kognitiven Prozesse uns einen Streich spielen und das reale Geschehen dem erwarteten anpasse.
Mit anderen Worten, wenn jemand erwarte, dass etwas so und nicht anders geschehe, neige er dazu, in ein von seiner Erwartung abweichendes Geschehen seine Erwartung hineinzuinterpretieren.
Mein Vater nennt dazu ein Beispiel aus der Luftfahrt. Piloten würden beispielsweise das Problem der Routinen sehr ernst nehmen. Sie bezeichnen sie als Fluch und Segen zugleich. Sie entlasten zwar einerseits das Gehirn, indem es den Routinehandlungen keine Aufmerksamkeit mehr widmen muss; andererseits bergen sie aber genau durch diese mangelnde Aufmerksamkeit auch erhebliche Gefahren. Wenn beispielsweise der Pilot die Fahrwerkshebel betätige, überprüfe er anschließend anhand der danach aufleuchtenden Lämpchen (in der Regel derer drei; eines fürs Bugfahrwerk und zwei für die Hauptfahrwerke), ob das Fahrwerk auch tatsächlich das „getan“ habe, was es „tun“ sollte. Wenn dieses Prozedere nun hunderte oder tausende Male auch so abgelaufen sei wie erwartet, das Fahrwerk also korrekt ausgefahren sei und die Lämpchen dies auch durch ihr Leuchten bestätigt hätten, entwickle der Pilot eine kongruente Erwartungshaltung, die dazu führen könne, dass er die drei Lämpchen sogar leuchten sehe, obwohl vielleicht eines gar nicht leuchte. Und so man ihn hinterher noch fragen könnte, würde er mit Stein und Bein schwören, alle drei Lämpchen leuchten gesehen zu haben.
Auch Goethe hat dieses Phänomen schon gekannt und in seinem Faust Mephisto in der Hexenküche sagen lassen: „Du siehst mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe.“ Das heißt, die Erwartungshypothese überlagert alternative Hypothesen.
Auch die Pädagogik kennt das Problem. Hier nennt es sich „Pygmalion-Effekt“. Der Künstler Pygmalion von Zypern erschuf eine Elfenbeinstatue, in die er sich schließlich verliebte. Am Festtag der Venus flehte er die Göttin der Liebe an, sie möge seine künftige Frau so sein lassen wie die von ihm erschaffene Statue. Als er nach Hause zurückkehrt und die Statue wie üblich zu liebkosen begann, erwachte diese tatsächlich langsam zum Leben.
Manchmal wird dieser Effekt auch als „selbsterfüllende Prophezeiung“ bezeichnet. Eine Eigenschaft, die man einer fremden und unbekannten Person andichtet, scheint sich später in der Wahrnehmung durch andere, die sie gar nicht kannten, tatsächlich zu bestätigen.
Und etwas ähnliches scheint sich auch, zumindest manchmal, in der Wahrnehmung meiner LeserInnen abzuspielen. Denn auch Sie lesen meine Beiträge nicht ohne Vorkenntnisse, die Sie sich aus unterschiedlichsten Quellen zuvor schon haben angeeignet. Daraus entwickeln Sie, ob Sie dies nun wollen oder nicht, determinierte Vorstellungen von dem, was Sie glauben, in meinen Beiträgen zu lesen werden. So wahrscheinlich auch im Falle des Herrn H.F.:
Er unterstellt mir nämlich in seinem Kommentar, dass ich behauptet hätte, dass mittels der Belohnung keine Verhaltensänderung zu erzielen sei. Wahrscheinlich, weil er erwartet hat, dass ich annehme, eine Konditionierung bewirke keine neuronalen Veränderungen, die sich auf ein verändertes Verhalten auswirken. Eine solche Behauptung habe ich aber nie und nimmer getroffen. Vielmehr war meine Kernaussage lediglich, dass eine Erziehung durch eine Belohnung nicht möglich sei, weil eine Belohnung nur eine Konditionierung bewirken könne.
Aber vielleicht verschaffte auch schon der Begriff Verhaltensänderung, den ich in meinen Texten wahrscheinlich nur im Kontext der Erziehung verwendet habe, eine falsche Erwartung. Wenn man nämlich eine erfolgreiche Konditionierung ebenso mit einer Verhaltensänderung, beispielsweise in Form des Ausführens eines Kommandos, welches der Hund zuvor nicht befolgt hat, gleichsetzt (was ich bei Herrn H. F. unterstelle) oder sie damit assoziiert und ich dies nicht explizit betont habe, könnte man die Erwartung generieren, ich setze das Ergebnis einer Konditionierung nicht mit einer Verhaltensänderung gleich. Das ist aber nicht meine Intension. Hier würde ich Herrn H. F. selbstverständlich zustimmen: Im gewissen Sinne ist das Ergebnis einer Konditionierung demzufolge auch ein geändertes Verhaltensmuster.
Aber ein solches Verändern im Verhalten des Hundes ist in meinem Kontext, wo es um das Unterlassen von unerwünschten oder sogar gefährlichen Verhaltensweisen geht, nicht gemeint.
Nochmal zur Erklärung meiner Aussage: Die Erziehung zielt – laut Definition – auf eine Veränderung des Dispositionsgefüges (Veranlagungen, Instinkte, Bedürfnisse) ab. Konditionierungen können dies nicht oder nur sehr langfristig (beispielsweise durch epigenetische Veränderungen, indem über einen relativ langen Zeitraum Umwelteinflüsse ihre Wirkung entfalten). Da aber alle sogenannten Verhaltensauffälligkeiten wie beispielsweise das Zerren an der Leine (zum Zwecke des Aufklärens), das Verbellen (Fernhalten von Gefahren) oder alle Arten von Aggressionen (außer Jagen) bis hin zu Beißattacken in der Befriedigung des Bedürfnisses des Hundes nach Sicherheit begründet sind – was Bestandteil seines Dispositionsgefüges ist –, bedarf eine Veränderung solcher Verhaltensweisen zwingend der Erziehung und nicht der Konditionierung.
Denn die Konditionierung ist etwas anderes. Sie bezweckt nicht die Veränderung, sondern im Gegenteil, sie nutzt das vorhandene Dispositionsgefüge (beispielsweise das Bedürfnis nach Nahrung) aus, um ihn mittels eines bestimmten Reizes (beispielsweise Belohnung durch ein Leckerli) zu einem bestimmten Verhalten (Reaktion) zu bewegen und durch häufiges Wiederholen ein Reiz-Reaktionsmuster im Gehirn neu zu verankern. Typische Beispiele sind alle Kommandos oder Tricks, die dem Hund beigebracht werden können. Denn für eine Belohnung (Reiz) macht (Reaktion) ein Hund beinahe alles (siehe Dressur).
Mit anderen Worten:
Die Erziehung bezweckt das Unterlassen von instinktiv determiniertem Verhalten des Hundes; also eines Verhaltens, welches er instinktiv aufgrund seines Dispositionsgefüges (Bedürfnis nach Sicherheit) von Natur aus an den Tag legt. In Bezug auf die oben genannten unerwünschten Verhaltensweisen bedarf es somit zwingend der Einflussnahme auf sein Bedürfnis nach Sicherheit, indem der Mensch (Herrchen oder Frauchen) an seiner statt ab sofort die Verantwortung dafür übernimmt, so dass ihm das Motiv für sein Verhalten quasi „abhandenkommt“.
Die Ausbildung hingegen bezweckt genau das Gegenteil, indem durch Konditionierung dem Hund etwas beigebracht wird, wofür ihm die Instinkte fehlen. Kein Hund auf dieser Welt würde von Natur aus seinem Herrchen die Zeitung aus dem Briefkasten holen oder sich an der Bordsteinkante hinsetzen.
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