Oder warum schon Homers Epos Odyssee das Gegenteil vermuten lässt
Kürzlich wurde ich wiederholt gefragt, ob der Hund nun ein Rudeltier sei oder nicht. Der Anlass, mich mit dieser Frage zu konfrontieren, war jedoch nicht, wie ich in meiner Naivität annahm, pure Neugierde. Nein, es entpuppte sich eher als der Versuch, mir eine Art genetisch-anthropologisch begründete argumentatorische Schützenhilfe zu entlocken, ein schnödes Hundetreffen zu organisieren. Denn sollte der Hund die Veranlagungen eines Rudeltieres besitzen – so vermutlich des Fragestellers Fantasie – käme eine solche Veranstaltung schließlich des hündischen Wohlbefindens zugute. Und schon hätte er ein schlagkräftiges Argument zur Rechtfertigung seines fraglichen Vorhabens. Es fehlte offenbar nur noch die „Expertise“ eines vermeintlichen Fachmannes, um mit diesem moralischen Beistand ruhigen Gewissens alle erreichbaren HundehalterInnen im Umkreis dazu zu ermutigen, ihren Vierbeinern und sich selbst etwas ganz Besonderes zu gönnen und sich zu einem gemeinsamen Herrchen-Frauchen-Hunde-Wald-Spaziergang motivieren zu lassen. Je zahlreicher, desto besser, so sicherlich die Idee. Ob das Ganze auch noch durch abverlangte Abgaben zu einem lukrativen Geschäft gemacht werden sollte, konnte ich nicht mehr erfahren, denn dem Fragesteller schien plötzlich jegliches Interesse an der Fortsetzung einer Konversation abhandengekommen, nachdem er hatte meine Antwort vernommen.
Ich vermute übrigens, eine ähnlich gelagerte Absicht, Hunden etwas Gutes tun zu wollen, liegt allen Arten von gemeinsamen Hundeveranstaltungen zu Grunde. Ich vermute sogar, dass Hundeschulen bester Absichten sind, wenn sie ihre Kunden zum gemeinsamen Hundetraining einladen. Aber dient das alles tatsächlich dem, was man glaubt und vorgibt, nämlich einen artgerechten Umgang mit unserem besten Freund zum Zwecke seines Wohlbefindens?
Mit ein bisschen abendländisch-literarischer Phantasie könnte man annehmen, dass sogar schon Homer es vor mehr als 2.000 Jahren besser wusste. Denn schon er ließ Odysseus‘ Jagdhund Argos 20 Jahre lang im Palast von Ithaka auf sein Herrchen warten. Als dieser zurückkehrt, erkennt ihn sein treuer Freund; ist aber schon zu schwach, sich vom Misthaufen zu erheben, auf dem er, schon von Ungeziefer zerfressen, auf ihn wartete. Ihm blieb nur noch ein Wedeln mit dem Schwanz; senkte die Ohren und starb.
Da drängt sich doch die Frage auf: Hat es für dieses Tier in den 20 Jahren, in denen sein Herrchen mal kurz Troja befreite, keine einzige verlockende Gelegenheit gegeben, die ihn hätte verleiten können, seinen vermeintlichen Instinkten und Bedürfnissen nachzugeben, sich anderen seiner Artgenossen anzuschließen, um ein geselliges und sein Wohlbefinden steigerndes Rudelleben zu genießen? Stattdessen harrt er mutterseelenallein und auf solche Annehmlichkeiten verzichtend auf einem Haufen von Mist und Ungeziefer aus, nur um auf sein Herrchen zu warten?
Die genetischen Informationen des Haushundes sind verschlüsselt in seinem Genom in geschätzten über 19.000 Genen. Ob darin heute noch die Veranlagungen auszumachen sind und der Haushund heute noch über das entsprechende Dispositionsgefüge verfügt, ein Rudel und die es charakterisierende Strukturen bilden zu wollen, kann ich nicht fundiert beantworten. Dazu müssten idealerweise ein Anthropologe und Genetiker die Antwort liefern; was sie meines Wissens aber mangels zweifelsfreier Untersuchungsergebnisse kaum können.
Was ich aber durch meine Beobachtungen eindeutig belegen kann, ist, dass ein domestizierter Haushund kein Verhalten mehr zeigt, welches darauf schließen ließe, dass er noch das Bedürfnis zur Rudelbildung hätte. Ganz im Gegenteil.
Der domestizierte Haushund ist schon insofern kein Rudeltier (mehr), da ihm durch seine Domestikation die evolutionsbiologischen Gründe für eine solche Lebensform quasi „abhandengekommen“ sind. Der Vorteil im Überlebenskampf, den die verhaltensbiologische Lebensform eines Rudels zur Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Stoffwechsel, Fortpflanzung und Sicherheit dem Wolf in freier Wildbahn bietet, spielt im Überlebenskampf des Haushundes keinerlei Rolle mehr. Diese Funktion hat vollständig die Form des „monogamen“ Zusammenlebens mit dem Menschen übernommen.
Daraus lässt sich natürlich nicht schließen, dass er nicht in der Lage wäre, in einer rudelähnlichen Gemeinschaft (so sie so überhaupt noch bezeichnet werden kann) zusammenleben kann, wenn es die Umstände erforderlich machen und er mehr oder weniger dazu gezwungen ist. Solche Beispiele findet man insbesondere bei verwilderten Hunden, von denen ich hier aber nicht spreche. Ebenso ist er sehr gut in der Lage, erfolgreich in einer menschlichen Familie mit mehreren anderen Hunden zusammenzuleben. Ob Letzteres aber seinem Bedürfnis entspricht, bleibt die Frage. Denn bezogen auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse nach Futtermaximierung und Aufmerksamkeit bzw. Zuwendung durch die Bezugsperson stellt ein Zusammenleben mit anderen seiner Art zumindest keinen Vorteil für ihn dar.
Es gibt eigentlich nur zwei Gründe, warum ein domestizierter Haushund – so wie wir ihn heute typischerweise in den Haushalten der modernen westlichen Wohlstandsgesellschaft antreffen – eigeninitiativ Kontakt zu fremden Hunden aufnimmt oder aufnehmen will:
Der erste findet sich in seinem Grundbedürfnis, seine Gene weiterzuverbreiten. Da Rüden in der Regel ca. ab dem 14. Lebensmonat ganzjährig deckbereit sind; Hündinnen jedoch nur alle fünf bis neun Monate (sie gehören zu den sogenannten saisonal diöstrischen Tieren) müssten die Organisatoren von Hundetreffen demzufolge in ihrer Planung derselben höchst akribisch vorgehen, um das Treffen zu einem „vollen Erfolg“ werden zu lassen. Aber Scherz beiseite; ich glaube kaum, dass die Reproduktion der hündischen Teilnehmer das angestrebte Ziel und der ausgedachte Grund eines organisierten Hundetreffens sein könnte.
Der zweite Grund resultiert aus dem Grundbedürfnis des Hundes nach Sicherheit. Denn wenn er keinen Sex will, dient die Kontaktaufnahme zu einem ihm fremden Hund ausschließlich nur noch der Befriedigung seines Aufklärungsinteresses an den möglichen Absichten des anderen. Denn diese könnten möglicherweise eine Gefahr darstellen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine und seinem Schutz anvertrauten Personen oder Ressourcen. Woraus sich wiederum die Frage nach der vermeintlichen Absicht der Organisatoren eines gemeinsamen Hundetreffens ergibt: Sollen hier etwa die Fähigkeiten der teilnehmenden Hunde zur Aufklärung und Selbstverteidigung trainiert werden? Ich denke, der gesunde Menschenverstand spricht auch hier dagegen.
Hinzu kommt, dass das Aufklärungsinteresse an den Absichten der anderen nur dann existiert, wenn der Hund nicht zuvor im Rahmen seiner intraspezifischen Sozialisation (gleichbedeutend mit seiner Erziehung) von der Verantwortung für seine Sicherheit und die der ihm anvertrauten Personen und Ressourcen entbunden wurde. Das heißt also, wenn der Hund in den Genuss einer solchen Erziehung gekommen ist, in dessen Ergebnis er jegliches Interesse (außer dem sexuellen) an anderen Hunden verloren hat und sie deshalb sogar ignoriert, macht ein organisiertes Hundetreffen doch erst recht keinen Sinn. Denn wozu sollte man ein Treffen von hündischen Individuen organisieren, wenn diese Individuen gar kein Interesse an einem Zusammentreffen haben?
Aber selbst dann, wenn die Hunde zuvor nicht erzogen wurden – sie also nicht von ihrer Verantwortung entbunden wurden – wäre ein Hundetreffen nicht nur erst recht sinnlos, sondern sogar absurd. Denn dann haben wir das Worst-Case-Szenario, also den schlimmsten aller denkbaren Fälle. Wenn die Hunde nicht erzogen (sprich intraspezifisch sozialisiert) wurden, sie demzufolge sich noch in der Verantwortung sehen, sich und Frauchen oder Herrchen vor allen Gefahren dieser Welt zu bewahren, bedeutet das Aufeinandertreffen mit Fremden ihrer Spezies nichts anderes als die Konfrontation mit lauter Konkurrenten, Rivalen oder sogar Feinden. Mit anderen Worten: Purer Stress! Auch hier erübrigt sich wohl die Frage, ob man so etwas seinem besten und treuesten Freund antun will.
Folglich zwängt sich geradezu die grundsätzliche Frage auf: Wenn “man” das alles weiß, warum werden dann trotzdem immer wieder Hundetreffen organisiert und laden Hundeschulen zu gerne Ihre Kunden zu gemeinsamen Trainings statt zum Einzelunterricht ein? Könnte es vielleicht sein, dass “man” es gar nicht weiß?
Die Antwort könnte – wie auf so viele Fragen zu den Konflikten im Zusammenleben von Mensch und Hund – der Anthropomorphismus (Vermenschlichung des Hundes) liefern. Denn da der Mensch aus dem Herstellen immer neuer Kontakte zu fremden Menschen evolutionsbiologisch einen Vorteil im Überlebenskampf generieren konnte und sich selbst deshalb in Gegenwart anderer Menschen wohl fühlt und sich nach neuen Kontakten geradezu sehnt, glaubt er, gleiches träfe auch auf den Hund zu. Er dichtet im Rahmen des Anthropomorphisierens dem Hund quasi das gleiche Verlangen an, wie er selbst es hat. Jedoch ein solches Bedürfnis hat der Mensch seinem Lieblingstier über mehr als 30.000 Jahre geradezu hinwegdomestiziert. Im Ergebnis dessen benötigt es weder zur Entwicklung seiner Kompetenzen noch für sein Überleben und schon gar nicht zu seinem Wohlbefinden (außer zum Zwecke der Reproduktion) den Kontakt zu einem anderen Hund.
Somit ließe sich nur eine einzige Rechtfertigung für gemeinsame Hundeveranstaltungen herleiten: Herrchen oder Frauchen wollen ihr Bedürfnis an sozialen zwischenmenschlichen Kontakten befriedigen, koste es was es wolle.
Ich habe dieses Thema ausführlich in meinen beiden Büchern erläutert und beschrieben, welche Konsequenzen das Zusammentreffen fremder Hunde für den einzelnen Hund haben kann.
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