Oder lassen sich so Rottweiler & Co. erziehen?
Ich sah mich veranlasst, einer Zeitschrift, die sich an Hundehalter wendet, einen kontroversen Diskussionsbeitrag als Reaktion auf einen ihrer Beiträge zu senden. In diesem antwortete eine Expertin auf eine Leserfrage, wie ein Hund bei Spaziergängen ruhig bleibe und nicht – wie in der Anfrage beschrieben –, andere Fußgänger ständig fokussiere und verbelle. Meine offensichtlich naive Vorstellung war eigentlich, dass mein Beitrag in einer der nächsten Ausgaben als kontroverse Lesermeinung veröffentlicht werde; bekam aber stattdessen eine etwas obskure Antwort.
Die zuständige Redakteurin dankte mir zwar, dass ich mich kontrovers mit ihrem Magazin auseinandersetze. Aber man lege nur Wert auf die Meinung von Hundetrainern, die sich in erster Linie mit der positiven Bestärkung und dem Aufbau von Alternativverhalten beschäftigen. Außerdem achte man darauf, immer die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen.
Nun will ich der Zeitschrift gar nicht das Recht absprechen, ihr Themenfeld und die Zielstellung, die sie mit ihren Beiträgen verfolgt, selbst zu bestimmen. Jedoch widerspricht das Abschotten gegenüber kontroversen Meinungen ihren selbst gegebenen Ansprüchen an die Wissenschaftlichkeit. Denn es ist eine der zentralen Forderungen in der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung, seine eigenen Thesen immer mal wieder dem Versuch einer Falsifikation (Widerlegung) zu unterziehen. Denn erst wenn es trotz bestgemeinter Anstrengung nicht gelingen sollte, seine eigenen Erkenntnisse zu widerlegen, darf man sich dem beruhigenden Gefühl hingeben, wahrscheinlich die Wahrheit entdeckt zu haben. Wenn man sich aber von vornherein einer kritischen Auseinandersetzung widersetzt, bekommt das Ganze einen faden Beigeschmack. Selbst wenn man mit seiner These recht haben sollte.
Aber sei es wie es sei, es bleibt die Frage, ob ein Hund mittels positiver Bestärkung und Aufbau eines Alternativverhaltens erzogen werden kann. Ich setze einmal voraus, dass jeder in etwa eine Vorstellung von dem hat, was unter beidem zu verstehen ist.
Eine mögliche Antwort findet sich in der Definition der Erziehung eines Hundes. Vorausgesetzt natürlich, man akzeptiert, dass das geschilderte Verhalten des Hundes einen Erziehungssachverhalt darstellt und keinen Ausbildungssachverhalt. Aber ich denke, jeder gut ausgebildete Hundetrainer sollte diese Differenzierung erkennen. Denn es geht hier nicht um Sitz, Platz & Co.
Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka hat die Erziehung einmal als Prozess der Veränderung im Dispositionsgefüge von Educanden (des zu Erziehenden) formuliert. Auf den Hund bezogen hieße dies, seine Erziehung ziele auf eine Veränderung seiner durch seine Veranlagungen und Instinkte initiierten Verhaltensweisen ab.
Da das von der Leserin beschriebene Verhalten des Hundes während ihrer Spaziergänge (Fokussieren und Verbellen fremder Personen) unzweifelhaft im Bedürfnis des Hundes begründet ist, seine eigene und Frauchens Sicherheit zu gewähren, was sich entsprechend seines Dispositionsgefüges aus seinem Beschützerinstinkt ergibt, muss demzufolge seine Erziehung darauf abzielen, ihm diese Verantwortung zu nehmen. Oder anders ausgedrückt: Wenn eine Veränderung in seinem Dispositionsgefüge erreicht werden soll, muss man ihm den Grund für sein Verhalten nehmen, um so Einfluss auf seine intrinsische Motivation zu erlangen.
Da aber beide beschriebenen Methoden (positive Bestärkung und Aufbau eines Alternativverhaltens) zu den operanten Konditionierungsmethoden zählen, weil sie durch extrinsisch gesetzte Motivatoren ausgelöst werden (beispielsweise Leckerli oder sonstige Belohnungen), ist mit ihnen die Veränderung des Dispositionsgefüges entweder unmöglich oder nur scheinbar. Darüber darf auch nicht hinwegtäuschen, dass sich durch Belohnung zumindest temporär durchaus eine Verhaltensänderung bewirken lässt. Diese ist aber nur eine scheinbare, denn dem dann veränderten Verhalten fehlt das Merkmal der intrinsischen Motivation, die jedoch zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung unabdingbar ist. Und die Gefahr besteht dann darin, dass sich bei Verringerung der Wirkung des extrinsisch gesetzten Reizes (Leckerli, Belohnung) das ursprünglich motivierte Verhaltensmuster wieder Bahn bricht. Denn die Ablenkung durch einen Belohnungsreiz wirkt nur so lange, wie dieser Reiz stärker ist, als der durch das Dispositionsgefüge ausgelöste Reiz zur Befriedigung seines Grundbedürfnisses nach Sicherheit. Dass man Letzteren kurzfristig durch das Darbieten eines Leckerlis quasi austricksen kann, liegt an der Hierarchie der Grundbedürfnisse. Jenes nach Futtermaximierung ist halt stärker als jenes nach Sicherheit.
Ein Hund, der die Verantwortung trägt für die eigene und die Sicherheit seiner Bezugsperson (zu deren Übernahme viele Hunderassen von sich aus neigen, ohne dass diese ihnen demonstrativ übertragen wird), neigt dazu, in allen fremden Personen und seinesgleichen eine potentielle Bedrohung zu sehen (deshalb sein Fokussieren und Verbellen). Sollte es durch aufwendiges Üben und Wiederholen tatsächlich gelingen, ihn zu einem alternativen Verhalten zu konditionieren, ist der Grund für sein Verhalten ja nicht beseitigt und er bleibt sozusagen eine Zeitbombe.
Solange wir über Hunderassen wie Chihuahua, Mops & Co. reden, mögen solche niedlich anzuschauenden Übungen wie dem Verstecken von Leckerlis hinter dem Rücken und gleichzeitigem Rufen wie „Schau“ ja ganz witzig sein. Aber der Spaß hört auf, wenn wir von Rottweiler, Schäferhund & Co. reden müssen. Solche Hunde sind durchaus in der Lage, einem kleinen Kind den Kopf abzutrennen – in der Fachsprache als Dekapitation bezeichnet. Diese Hunde, so sie nicht als Wach- und Schutzhund eingesetzt werden sollen, müssen zwingend im Rahmen ihrer Erziehung von ihrer Verantwortung entbunden und nicht mit Leckerlis oder sonstigem Firlefanz abgelenkt werden. Und eine solche Erziehung ist nur möglich, indem Einfluss auf ihr Dispositionsgefüge genommen wird. Dazu stehen zwei Methoden zur Verfügung, die simultan angewendet werden müssen:
Die Korrektur zur drastischen Einschränkung ihres Entscheidungsspielraumes und die Demonstration ihrer Entbindung von der Verantwortung und Übernahme derselben durch die Bezugsperson.
Ich wurde kürzlich ungewollt Zeuge, wie ein kleines ca. 2-jähriges Kind, dass gemeinsam mit seiner Mutter vor einer Schule auf den älteren Bruder warteten, von einem noch relativ jungen aber nicht angeleinten Rottweiler „angegriffen“ wurde. Für den Laien stellt sich solch eine Situation bei einem noch jungen Hund gerne verklärt als spielerisch dar. Aber hinter diesem vermeintlichen Spielen verbirgt sich ein Todernst. Denn es ist bereits ein Indiz dafür, dass der Hund sich für die Sicherheit seines Frauchens verantwortlich fühlt. Wer das als Halter nicht ernst nimmt oder als Hundetrainer meint, mit dem Aufbau einer alternativen Handlungsoption mittels Leckerlis aus der Welt schaffen zu können, handelt nach meiner Überzeugung grob fahrlässig.
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