oder
kann man den Verlust irgendwann ertragen?
Ich musste eine Entscheidung treffen, auf die ich mich selbst, meine Frau und vor allem unseren Sohn schon seit langem versucht hatte, behutsam vorzubereiten. Eine Entscheidung, die so unendlich schwerfällt, weil sie unumkehrbar und deshalb so schwer zu ertragen ist. Weil sie uns zum Herrn über Leben und Tod erhebt und wir uns fragen lassen müssen, ob uns eine solche Entscheidung überhaupt zusteht. Doch ich habe mich schon vor vielen Jahren und in den vielen anderen Fällen davor dafür entschieden, weil ich glaube, dass wir es der Kreatur schuldig sind, sie vor vermeidbarem Leiden zu bewahren.
Doch wie ich auch diesmal wieder schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste, ist es unmöglich, sich auf eine solche Entscheidung vorzubereiten. Jedenfalls nicht in der Hoffnung, ihre Konsequenzen dann besser ertragen zu können. Denn die Konsequenzen, die sich in einer abgrundtiefen Traurigkeit Bahn brechen, sind auch dann nicht besser zu ertragen, selbst wenn man vernunftbegabt deren Logik zu begreifen glaubt. Und wenn der Tag, den man sehr real vorausgesehen hat und auch glaubte, ihn rational akzeptiert zu haben, dann da ist, ist er trotzdem plötzlich da und seine ganze Grausamkeit erfasst einen mit all seiner Brutalität.
Wenn wir als Erwachsene schon mit unserer mentalen Fähigkeit zur rationalen Verarbeitung eines solchen Verlustes uns kaum in der Lage sehen, unsere Gefühle zu steuern und glauben, der Schmerz zerreiße einem die Brust; wie kann und soll dann erst ein Kind mit elf Jahren den Verlust seines besten Freundes verarbeiten. Seines besten Freundes, den er Neo nannte, einen deutschen Schäferhund. Neo, der stets an seiner Seite lief und immer glaubte, auf seinen kleinen Paul aufpassen und ihn vor allen Gefahren dieser Welt bewahren zu müssen. Wenn dieser noch ungeschickt auf seinem Laufrad auf der Straße unseres Dorfes spielte und ein Autofahrer glaubte, sein Recht in Anspruch nehmen zu können, stellte Neo sich demonstrativ und das eigene Leben riskierend ohne jedes Zögern dazwischen und wich solange nicht von der Straße, bis sein kleiner Freund diese schadlos verlassen hatte. Auch rettete er dem Jungen einmal im wahrsten Sinne des Wortes das Leben, als dieser, was wir als Eltern wohl kaum bemerkt hätten, nachts allein in seinem Zimmer einen Atemnotanfall erlitt. Aber der Hund bemerkte das ungewöhnliche Verhalten seines kleinen Freundes und kam zu uns ans Bett, um uns zu warnen. Und er war tröstend stets zur Stelle, wenn sein kleiner Freund Angst hatte. Als wir in ein altes Bauernhaus zogen und dessen alte Gemäuer im Dunkel der Nacht die Fantasie des kleinen Jungen überstrapazierte und selbst die Bettdecke weit über den Kopf gezogen kein probates Mittel mehr zu seien schien, die Angst zu vertreiben, legte der Hund sich instinktiv neben sein Bett und vertrieb wie ein Zauberer alle bösen Geister. Selbst wenn die Oma zur Betreuung da war oder der Opa mit dem Enkel herumtollte und Kämpfen spielte, Neo blieb stets argwöhnend in der Nähe. Als die Oma einmal einen ganzen Nachmittag, eine Nacht und noch einen halben Tag bei uns zu Hause die Betreuung ihres Enkels übernahm, weil wir unterwegs waren, berichtete die Oma anschließend von einem merkwürdigen Gefühl des stets Beobachtet-Seins. Erst nach Stunden des misstrauischen Beäugelns nahm der Hund wohl eher schlecht als recht zur Kenntnis, dass die Oma wohl doch keine ernstzunehmende Bedrohung für seinen Schützling zu seien schien. Oder wenn unser kleiner Paul in das nahe gelegene Wäldchen lief, um mit seinen Freunden Räuber und Gendarm zu spielen, sein Neo lief stets kontrollierend hinterher und verlor ihn nicht aus den Augen. Und nicht zu vergessen sind die wohl schrecklichsten Minuten im Leben der Eltern, wenn der kleine Sohn im Menschengewusel eines Kaufhauses plötzlich außer Sichtweite gerät. Minuten, die zur Ewigkeit geraten können. Und ich wie von Geisterhand gesteuert und mehr instinktiv als rational motiviert die Leine löste und dem Hund mehr verzweifelt als hoffend ins Ohr flüsterte: „Wo ist Paul? Bring ihn uns zurück!“ Und es in Wirklichkeit wohl merklich weniger als die gefühlte Ewigkeit dauerte, bis sie beide wieder vor uns standen, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Allerdings in Begleitung eines mahnenden Ordnungshüters, der einen unangeleinten Hund „dieses Kaliebers“, wie er ihn nannte, der auf der Liste der gefährlichen Hunderassen stünde, in seinem Verantwortungsbereich, und überhaupt im öffentlichen Raum, auf gar keinen Fall dulden könne.
Dieser Ordnungshüter konnte nicht wissen, dass dieser von ihm als „gefährlicher Listenhund“ eingestufte Spezialist einer der bestausgebildeten Therapiehunde war. Ein Therapiehund, dessen Aufgabe es war, mein zuverlässiger Partner zu sein bei der Erziehung von echten verhaltensauffällig gewordenen Listenhunden. Ein Genie, das in der Lage war, nur auf eine Geste meinerseits hin, sowohl die aggressive Bestie zu mimen, wenn es die Situation von ihm verlangte, als auch den Harmlosen, der scheinbar in sich ruhend jeden nervenden Umweltreiz zu ignorieren in der Lage war. Denn seine Mission war es, mir bei der Resozialisierung der Edukanden zu assistieren und im Anschluss den Erfolg des Unterfangens zu überprüfen, wenn er ihnen gegenüber den aggressiven „Angreifer“ zu simulieren hatte, den sie, die gerade Resozialisierten, gelassen zu ignorieren hatten, obwohl sie noch kurz zuvor geneigt waren, ihm die Kehle durchzubeißen. Er wusste stets sehr genau, wann und in welcher Situation ich von ihm welche Aktivität oder Verhaltensweise erwartete und enttäuschte mich in nicht einer einzigen Situation.
Aber Neo war nicht nur ein perfekt ausgebildeter Spezialist, sondern er war auch eine intraspezifisch, interspezifisch und umweltspezifisch perfekt sozialisierte Ausnahmeerscheinung. Denn er war in seiner Erziehung das Ergebnis der sogenannten „Hohen Schule der Hundeerziehung“, die sich dadurch auszeichnet, dass der Hund zwar im Rahmen seiner Erziehung von der ihm wesenseigenen Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die der ihm anvertrauten Personen und Ressourcen entbunden wurde, er diese aber aufgrund seiner außerordentlichen Intelligenz trotzdem sowohl situationsbedingt, wie im Falle seines fürsorglichen Beschützerverhaltens gegenüber unserem Sohn, als auch auf Verlangen meinerseits wahrzunehmen im Stande war, wie er es im Falle seiner Assistenz bei der Resozialisierung aggressiver Artgenossen unter Beweis stellte. Nicht nur deshalb hat er meinen beiden Fachbüchern auch seine Stimme geliehen und aus seiner Perspektive nicht nur die Möglichkeiten sondern auch die Ursachen des Scheiterns einer Hundeerziehung formuliert.
Der Verlust eines solchen Tieres ist sicherlich und ohne Zweifel für jeden Hundebesitzer ein grausamer, und jeder, der ein Tier über viele Jahre hat lieben gelernt und in sein Herz geschlossen hat, wird einen fürchterlichen Schmerz empfinden, wenn am Ende der Abschied kommt.
Aber in diesem Fall ist der Schmerz nicht nur mental so unerträglich, sondern der Verlust ist ein nicht mehr zu ersetzender. Die meisten Hunde, so herzlos es auch klingen mag, sind in der Regel durch eine Neuanschaffung ersetzbar und die Traurigkeit über den Verlust wird irgendwann verblassen. Aber im Fall von Neo ist der Verlust brutal, denn einen Ersatz für ihn wird es nicht mehr geben. Weil seine Zuchtlinie nicht mehr existiert. Eine Zuchtlinie aus Ostdeutschland, die wie viele andere auch nach der Angliederung Ostdeutschlands an den Westen, aus welchen Gründen auch immer, aufgegeben wurde oder werden musste. Eine Zuchtlinie, die nicht wie im Westen Deutschlands seit Generationen praktiziert, einem fragwürdigen Schönheitsideal unter Inkaufnahme gesundheitlicher Folgeschäden für das Tier nacheifert, sondern die Fitness des Tieres und sein außergewöhnliches Dispositionsgefüge in den Mittelpunkt des Zuchtziels stellt, das ihn geradezu prädestiniert für einen perfekten Wach-, Schutz- und Diensthund, der gleichzeitig über eine außerordentlich hohe Intelligenz und soziale Kompetenz verfügt. Die Ostberliner Züchterin, die selbst im Sicherheitsdienst arbeitete, wusste wovon sie sprach, wenn sie mir gegenüber von dem außergewöhnlichen Dispositionsgefüge ihrer Hunde schwärmte. Eine Züchterin, die nicht den Kommerz und Profit in den Vordergrund ihrer verantwortungsbewussten Zuchtarbeit stellte und nicht auf irgendwelchen fragwürdigen Schönheitswettbewerben ihre Zuchterfolge posieren lassen wollte, sondern sowohl die genetische und physische Gesundheit als die möglichst perfekte Gebrauchstauglichkeit.
Ich musste der Züchterin damals Rede und Antwort stehen, zu welchem Zweck ich einen ihrer Welpen erwerben wollte. Nicht alle Züchter, insbesondere solcher Rassen, die über ein Dispositionsgefüge mit einem durchaus nicht zu überschätzenden agonistischen Verhaltensrepertoire verfügen, handeln derart verantwortungsbewusst. Hunderassen, die in falsche Hände gelangt unberechenbare Gefahren darstellen können, wie ich leider alltäglich in meiner Arbeit feststellen muss, werden nicht selten verantwortungslos an Personen abgegeben, die weder mental noch sozial kompetent über ausreichende Voraussetzungen verfügen.
Und ich musste auch sehr lange warten, bis dann endlich ihr lang ersehnter Anruf kam. Aber einen solchen Anruf werde ich nie wieder bekommen.
Lebe wohl mein Freund. Du wirst ähnlich wie dein Vorgänger Roof einen ständigen Platz in meinen Erinnerungen behalten. Das verspreche ich dir.