oder
eine der Ausnahmen von der Regel
Eine auch mir immer wieder gestellte Frage ist die nach der richtigen “Quelle” für den Erwerb eines Hundes. Ich glaube, dass kaum eine Frage die Gemüter derart zerreißt und in unterschiedliche Lager spaltet wie die, ob man einen Hund beim Züchter, im Tierheim oder vielleicht sogar auf einem osteuropäischen Trödelmarkt erwerben sollte, um diesen armen Kreaturen noch ein würdiges Leben zu ermöglichen. Jüngst begegnete mir eine Kundin, die mir mit einem schier unübersehbar zur Schau gestellten Altruismus und nach Anerkennung buhlenden Stolz erklärte, dass sie – mit Blick auf das sich hinter ihr zitternd verkriechende Häufchen Unglück – ihren Liebling aus einer Tierversuchsanstalt (ihre Worte) in Süditalien durch Kauf „befreit“ habe.
Da es auf die oben gestellte Frage kaum eine „richtige“ Antwort gibt – denn jedes Lager hat vermeintlich unschlagbare Argumente, die zwischen sachlich begründeter Vernunft und tierliebender und die Kreatur achtender Moral tendieren – will ich hier auch gar kein Diskussionsforum aufmachen, sondern aus dem vielschichtigen Komplex dieses Themas ein einzelnes Problem herausgreifen, welches man bedenken sollte, wenn man einen Hund nicht bei einem zugelassenen und kontrollierten Züchter seines Vertrauens erwirbt.
Ich bin in meinem Buch „Problemhunde und ihre Therapie“ unter anderem auch auf die sensiblen Phasen der hündischen Entwicklung eingegangen, die wie kurze Zeitfenster verstanden werden sollten, in denen wichtige psychische Entwicklungen stattfinden und das Anlegen wichtiger und überlebensnotwendiger Verhaltensmuster geschieht; oder eben auch nicht, wenn diese Entwicklungsfenster nicht „genutzt“ werden. Die negativen Folgen für letzteres sind schwerwiegend. Und das sollte jeder bedenken, der einen Hund erwirbt oder erwerben möchte, dessen Vorgeschichte er nicht wirklich kennt. Sollte er trotzdem mit dem Gedanken spielen, einer solchen Kreatur eine Chance zu geben, sollte er – auch im Interesse des Tieres – sehr kritisch die Rahmenbedingungen hinterfragen, die er diesem Tier überhaupt bieten kann. Denn die gemeinsame Lebensgestaltung mit einem solchen Hund kann durchaus mit einem „Fulltime-Job“ verglichen werden, oder im negativsten Falle sogar eine Gefahr darstellen, insbesondere gegenüber Kindern.
Ich behaupte zwar, dass beinahe alle Verhaltensauffälligkeiten bei einem Hund durch eine einzige Trainingseinheit beseitigt werden können, wenn Herrchen oder Frauchen anschließend eine gute Compliance – also Therapietreue – an den Tag legen. Diese Behauptung begründe ich damit, dass nahezu alle Verhaltensauffälligkeiten in Wirklichkeit gar keine echten, sondern nur vermeintliche sind. Denn diese vermeintlichen Verhaltensauffälligkeiten, die mir in meiner Praxis als Hundetrainer bisher überwiegend begegnet sind, sind in Wirklichkeit nichts anderes, als das unbewusste Fehlverhalten der Hundebesitzer(innen) dem Hund gegenüber, was meistens durch das Fehlinterpretieren des hündischen Verhaltens oder seiner Bedürfnisse durch Herrchen oder Frauchen begründet ist. Woraus resultiert, dass im Grunde genommen und stark vereinfacht nur die Ursache – also das menschliche Fehlverhalten – beseitigt werden muss. Und das ist in der Regel innerhalb einer einzigen Trainingseinheit machbar bzw. erklärbar. Trotzdem bleibt natürlich das Wörtchen „beinahe“; was bedeutet, dass es Ausnahmen gibt, die eben nicht in einer einzigen Trainingseinheit therapiebar sind. Diese sind zwar selten, aber immerhin, es gibt sie. Und zu diesen Ausnahmen zählen pathologische Ursachen hündischer Verhaltensauffälligkeiten.
Eine dieser pathologischen Ursachen ist die als Deprivation bezeichnete Störung. Der Begriff der Deprivation wird nicht nur in der Psychologie sondern auch in der Soziologie verwendet und beschreibt sowohl den Zustand als auch die Folgen eines Verlustes oder Mangels. In unserem Kontext ist damit gemeint, dass der Hund aufgrund fehlender oder mangelnder Stimuli in den entscheidenden und sensiblen Phasen seiner Persönlichkeitsentwicklung später unter den daraus folgenden Mangelerscheinungen leidet. Wenn ein Welpe beispielsweise in seiner prägenden Phase, in der er seine soziale Kompetenz entwickeln muss, keinerlei Kontakt zu anderen Mitgliedern seiner Spezies oder zu anderen sozialen Wesen hat, wird es diesbezüglich zu Defiziten in seinen Fähigkeiten kommen, die später entweder nur sehr mühsam oder sogar gar nicht mehr kompensiert werden können.
Will meinen, wenn ein Hund beispielsweise durch Isolation in den entscheidenden Prägephasen keinen für seine Entwicklung zwingend notwendigen Reizen ausgesetzt ist, wird er im späteren Leben mit solchen Reizen ungeschützt und unvorbereitet konfrontiert sein und u.U. ein irrationales Verhalten an den Tag legen. Als scheinbar harmloses Beispiel nenne ich immer gerne das zu frühe Trennen der Welpen von der Mutter und seinen Geschwistern. Und im Falle der völligen Isolation mit einem nahezu vollständigen Entzug von sozialen als auch Umweltreizen, bildet sich eine nicht mehr kompensierbare Deprivation heraus. Dann ist eine Erziehung des Hundes im Sinne seiner intraspezifischen, intersprezifischen oder umweltspezifischen Sozialisation so gut wie unmöglich.
Die überwiegende Mehrheit meiner bisherigen durch mich behandelten „Problemhunde“ konnten dadurch therapiert werden, dass entweder ihnen ihr verlorengegangenes Sicherheitsgefühl zurückgegeben wurde oder sie von der Verantwortung für ihre Sicherheit bzw. die ihres „Rudels“ oder für die Sicherheit einer ihnen übertragenen Ressource entbunden wurden. Dies ist aber nur möglich, wenn der Hund im Rahmen seiner Prägephasen schon einmal gelernt hat oder überhaupt mit der Möglichkeit konfrontiert wurde, dass auch irgendjemand anderes außer er selbst für seine Sicherheit sorgen kann. Ist ihm dieser Aha-Effekt verwehrt geblieben, wird er natürlich sehr widerwillig sein Schicksal in die Hände eines anderen Wesens legen wollen. Und dann ist viel Zeit und Geduld gefragt, dem Tier immer und immer wieder zu demonstrieren, dass die Anwesenheit von Frauchen oder Herrchen für ihn nur eines bedeutet: Die Sicherstellung seines Grundbedürfnisses nach Sicherheit. Und das mit dem Ziel, sein Vertrauen zu gewinnen.
Eine solche Situation ist durchaus damit vergleichbar, eine nicht vorhandene Veranlagung entwickeln zu wollen. Ist eine Veranlagung da, ist ihre Ausprägung „nur“ davon abhängig, ob sie gefördert oder gehemmt wird. Ist sie aber gar nicht vorhanden, kommt ihre Ausprägung einer Unmöglichkeit gleich. Ich will damit auch darauf hinweisen, dass trotz eines scheinbaren Erfolges in der Therapie solcher Hunde, immer ein Restrisiko des irrationalen Verhaltens einkalkuliert werden sollte. Insbesondere sollten diese Hunde niemals allein mit Kindern gelassen werden.
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