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Das Phänomen der Assoziation
In dem Buch „Die Erziehung verhaltensauffälliger Hunde und die Gründe ihres Scheiterns“ (siehe BÜCHER) habe ich im Kapitel „Die aberwitzigen Empfehlungen von Fachleuten“ das Zitat einer verzweifelt wirkenden Hundehalterin wiedergegeben. Sie zählt darin die ihr von „professioneller“ Seite gegebenen Empfehlungen auf, wie sie ihren „Monsterlabbi“ angeblich in den Griff bekommen könne. Sie nennt in dem Kontext zwar ihre Tierärztin; erwähnt sie aber nicht ausdrücklich als die Quelle der Empfehlungen, sondern spricht allgemein von „professioneller Hilfe“. Deshalb unterstelle ich einmal, dass nicht die Tierärztin die Empfehlende war, sondern eine Hundeschule; ersterer wären solche Fehler zu verzeihen.
Eine der ihr gegebenen Ratschläge, um ihren „Zerrer an der Leine“ in den Griff zu bekommen, war nämlich die Empfehlung zur Nutzung einer Schleppleine.
Da mir meine KundInnen bereits wiederholt von derartigen Empfehlungen als Hilfsmittel zur Hundeerziehung berichtet haben – und sie sprechen in dem Zusammenhang ausdrücklich von Quellen wie Hundeschulen und HundetrainerInnen und nicht von irgendwelchen Laien – will ich doch einmal auf das Phänomen der Schleppleine im Kontext der Hundeerziehung eingehen.
Dazu habe ich mir im Vorfeld mehrere Videobeiträge verschiedener „ExpertInnen“ im Netz angeschaut und dabei zwei bemerkenswerte Gleichnisse in allen Beiträgen feststellen müssen:
- Die erstaunliche Übereinstimmung in allen Beiträgen bei der Begründung der Verwendung einer Schleppleine. Eine der häufigsten bezieht sich dabei auf die Situation, wenn der Hund nicht abrufbar sei, wenn er beispielsweise seinem ungezügelten Jagdtrieb oder der Befriedigung sonstiger „Neugierde“ – wie es heißt – nachgehe und man ihm aber trotzdem eine gewisse „Freiheit“ gewähren wolle.
- In keinem der Beiträge – zumindest in keinem, den ich gesehen habe – wurde von den interviewten oder sich selbst darstellenden „ExpertInnen“, bevor sie überhaupt auf den Sinn oder Unsinn einer Schleppleine eingehen und darauf, wie man mit ihr umzugehen habe, auch nur ein einziger Gedanke daran verschwendet, zuvor erst einmal das hündische Verhalten zu diagnostizieren und es, wie es nämlich meistens der Fall ist, als Erziehungsproblem (und nicht als Ausbildungsproblem) zu identifizieren. Stattdessen wird sofort und nahezu alternativlos die Schleppleine als Lösung des „Problems“ gesehen. Sie wird quasi als Lösung für ein Problem beschrieben, ohne das Problem zu kennen.
Ich kann deshalb nur schlussfolgern, dass das unerwünschte hündische Verhalten, welches zur Verwendung einer Schleppleine motiviert, von den „ExpertInnen“ gar nicht als Erziehungsproblem identifiziert wird, welches mit einer einfachen Erziehung aus der Welt geschafft werden könnte. Und da jede(r) gut qualifizierte Hundetrainer(in) es zu seinem/ihrem Wissensrepertoire zählen sollte, dass eine Schleppleine eher ein Hilfsmittel zur Ausbildung bzw. Aufgabenerfüllung (worauf ich am Ende noch eingehen werde) ist, müssten spätestens an dieser Stelle jene „ExpertInnen“ stutzig werden.
Es wäre doch wohl viel sinnvoller, bevor über die Verwendung einer Schleppleine als Lösung des „Problems“ nachgedacht oder diskutiert wird, zunächst einmal darüber nachzudenken und zu diskutieren, worin eigentlich das „Problem“ (und die Ursache des unerwünschten hündischen Verhaltens) besteht. Und anschließend sollte das Ziel einer Problemlösung doch wohl immer in erster Linie die Beseitigung der Ursachen des Problems sein und nicht das Herumdoktern an den Symptomen.
Wenn Mama einem fiebernden kleinen Kind mit einem fiebersenkenden Mittel das Fieber senkt, glaubt doch auch nur das kleine und noch sehr naive Kind, dass Mama eine Zauberin sei und die Ursache des Fiebers beseitigt hätte und nicht nur die Symptome. Die Mama dagegen, die nicht naiv ist, geht deshalb ja auch mit dem Kind zum Arzt und nicht zum Apotheker. Letzter hat nämlich meistens nur Ahnung von den Symptomen. Ebenso wäre es auch ratsamer, bei einem wie zuvor beschriebenen Hund mit seinem unerwünschten Verhalten nicht den Verkäufer einer Schleppleine um Rat zu fragen, sondern lieber den kompetenten Hundetrainer, der das Erziehen des Hundes beherrscht und nicht das Verkaufen einer Schleppleine.
Um meine Eindrücke der Videobeiträge noch einmal mit meinen Worten auf den Punkt zu bringen: Ich kann sie alle nicht anders interpretieren, als dass seitens der sich darin präsentierenden „ExpertInnen“ empfohlen wird, die Schleppleine jenen Hunden anzulegen, die nicht erzogen sind (was ihnen allerdings wahrscheinlich nicht bewusst ist), um die Folgen und Auswirkungen des Nicht-erzogen-Seins in Grenzen zu halten. Das Erziehen dieser Hunde als Alternative wird von ihnen überhaupt nicht in Betracht gezogen (wahrscheinlich, weil sie das unerwünschte Verhalten nicht als eines in der mangelnden Erziehung begründetes erkennen).
Eine andere Interpretation lassen die Videobeiträge jedenfalls nicht zu. Denn ein Hund, der seinem Jagdtrieb ungezügelt nachgeht oder aufklärerisch das Gelände erkundet, ohne abrufbar zu sein, ist schlicht und ergreifend nicht erzogen. Das heißt, ihm wurde offensichtlich und unbewusst nicht nur die Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die von Frauchen oder Herrchen überlassen, woraus sich sein Aufklärungsinteresse des Reviers speist, sondern ihm wurde auch ein zu großer Entscheidungsspielraum zugestanden, was an seinem ausgelebten Jagdinstinkt festgemacht werden kann. Beides sind Erziehungssachverhalte und können im Rahmen einer solchen relativ schnell aus der Welt geschafft werden.
Anstatt den Hund zu erziehen, was jeder gut ausgebildete Hundetrainer eigentlich können sollte, soll stattdessen mittels der Schleppleine an den Symptomen des unerzogenen Hundes herumgedoktert und die unangenehmen Auswirkungen seines unerwünschten Verhaltens in Grenzen gehalten werden. Und zur Beschreibung dessen wird ein riesiger Aufwand betrieben, um allerlei Übungen zum Beherrschen des Umgangs mit der langen Strippe zu demonstrieren. Denn dieser sei nach Angaben der „ExpertInnen“ zufolge zugegebenermaßen nicht ganz unproblematisch. Allein das Beherrschen des Haltens der Leine an der richtigen Stelle und in der richtigen Länge sei von allerlei aufgezählten Bedingungen abhängig. So solle unbedingt bedacht werden, wieviel lockere Leinenlänge Bello zugestanden werde, falls er ein antrittsstarker Bursche sein sollte. Zwar sei nicht jeder gleich ein Greyhound und bringe es locker mal auf über 60km/h; aber manchmal ersetze auch Gewicht Geschwindigkeit und drohe Frauchen die Schulter auszukugeln, wenn Bello bei seinem Sprint schlagartig das Ende der Leinenlänge erreiche. Auch solle man die Handschuhe nicht vergessen, um den Besuch des Hautarztes zu vermeiden, falls die Strippe mal durch die Hände rauschen sollte (Segler können davon ein Lied singen). Und nicht zu vergessen sei das Verhaken der Leine an natürlichen Hindernissen als Gefahr für Leib und Leben usw. usw.
Mit anderen Worten: Anstatt Bello & Co. eine vernünftige Erziehung angedeihen zu lassen, im Ergebnis dessen sie sowohl das Herumstrolchen, ohne wieder abrufbar zu sein, als auch das Jagen, ohne dafür den Befehl erhalten zu haben, von ganz allein sein lassen würden, soll Frauchen lieber mit einem an einen den Mount Everest bezwingenden Bergsteiger erinnernden Leinenhaufen herumlaufen und experimentieren. Und wenn man den Videobeiträgen Glauben schenken darf, sollte Frauchen und Herren auch nicht den Rucksack mit Leckerli vergessen.
So weit, so ungut. Aber mich interessiert im Zusammenhang solch aberwitziger Empfehlungen immer noch etwas ganz anderes; nämlich die Gründe für ihre offensichtliche Glaubwürdigkeit. Und in diesem Fall kam mir der Altmeister der Philosophen Aristoteles in den Sinn. Ihm nämlich werden die sogenannten primären Assoziationsgesetzte zugeschrieben.
Die Frage, die sich mir in dem hiesigen Kontext nämlich stellt, ist die nach dem Grund, warum den Empfehlungen zur Verwendung einer Schleppleine derart unkritisch begegnet wird und im Zuge der Diskussion zu ihrer Verwendung ihre Infragestellung überhaupt keine Rolle spielt. Es geht stets nur darum, wie sie verwendet wird, kaum um das Ob.
Der Grund könnte die Verwendung assoziativer Begrifflichkeiten durch ihre Befürworter sein, die beim Laien sofort eine hohe Akzeptanz begründen. Den primären Assoziationsgesetzen nach hängt die Assoziationsstärke zweier Reize von ihrer räumlichen und zeitlichen Nähe, Gleichheit und Gegensätzlichkeit während des Lernens ab. In unserem Fall bedeutet dies, dass offensichtlich die Begrifflichkeit „Freiheit“, die im Kontext der Schleppleine verwendet wird, mit einem derart positiv assoziierten Sinn (Gleichheit) belegt ist und dadurch derart stark wirkt, dass niemand auch nur einen Gedanken daran verschwendet, einen Zweifel zu hegen.
Wenn eine „Expertin“ beispielsweise der Hundehalterin, die einen „Leinenrambo“ ihr Eigen nennt, die Verwendung einer Schleppleine als Lösung ihres Problems ans Herz legt und dies mit den wohlfeilklingenden Worten begründet, ihren Hund dadurch einerseits unter Kontrolle zu haben aber andererseits ihm eine wesentlich größere Freiheit zu gewähren, macht es offensichtlich Klick im Kopf der Hundehalterin. Der Begriff Freiheit ist mit derart positiven Emotionen assoziiert, dass jede Skepsis oder Kritik offensichtlich im Keim erstickt wird.
Aber an dieser Stelle muss ich intervenieren, denn die dem Hund mit einer Schleppleine vermeintlich zugestandene Freiheit hat mit der assoziativ positiv belegten Freiheit nichts zu tun. Denn dem Soziologen Lord Ralf Dahrendorf zufolge ist die „Freiheit … die Abwesenheit von Zwang.“ Und wenn wir uns den oben beschriebenen Hund vor Augen führen, ist er keineswegs von Zwängen befreit. Im Gegenteil, auf ihm lastet der Zwang, Verantwortung zu tragen und dieser gerecht werden zu müssen, nicht nur für seine eigene Sicherheit, sondern auch für die von Frauchen oder Herrchen zu sorgen – deshalb sein visuelles, akustisches und vor allem olfaktorisches Aufklären des Reviers, um abzuchecken, ob irgendwo Gefahren lauern. Sein Verantwortungs- und Aufklärungsgebiet grenzt dabei nur die Länge seiner ihm angebundenen Leine ein. Bindet man ihn nun, wie seitens der „ExpertInnen“ empfohlen, an eine noch längere Strippe, versteht der Hund das ihm damit gegebene Signal sehr wohl, jetzt die Verantwortung für ein noch größeres Revier als bisher übertragen bekommen zu haben.
Wenn man diesen Hund stattdessen tatsächlich mehr Freiheit gewähren wollte, sollte man ihn schlicht und ergreifend nur erziehen und damit von jeglicher Verantwortung befreien – denn nichts anderes verbirgt sich hinter der Erziehung. Das wäre Freiheit im wahrsten und besten Sinne. Er wäre dann frei von Verantwortung und evtl. sogar von Stress.
Abschließend – wie versprochen – noch eine Ergänzung zur möglichen Sinnhaftigkeit der Schleppleine. Denn sie ist nur dann nicht geeignet, wenn man sie als Hilfskrücke zur Umgehung oder Ersatz zur Erziehung eines Hundes einsetzen wollte. Zur Ausbildung und in ganz speziellen Fällen der Aufgabenerfüllung wie beispielsweise im Such- und Rettungsdienst kann die Schleppleine durchaus ein sinnvolles Hilfsmittel sein, um den Kontakt zum Hund nicht zu verlieren, aus welchen Gründen auch immer. Aber diese Fälle sind in den von mir kritisierten Beiträgen nicht gemeint.
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